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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

nur versteht mit den Verhältnissen zu rechnen, in die ihn das Schicksal gestellt hat.“

„Nein,“ widersprach Ravensburgk herbe, „nicht jeder vermag es.“ Und in leichterem Tone fuhr er fort: „Ich könnte Ihnen eine Geschichte erzählen von einem jungen Lieutenant, der weniger hatte als seine Gage, da dieselbe zum Theil dem Lieferanten seiner Uniform verpfändet war. Sein Vater lebte mit den jüngeren Kindern auf einem Gut, das unter Sequester stand und kaum mehr gab als das Dach, unter dem die Familie sich barg. Es ist zwar in derselben ein Hausschatz vorhanden, ein prächtiges Silbergeschirr, aber dieses ist, laut Testament eines Urgroßonkels, unveräußerlich. Nur wenn die Familie ein glänzendes Fest geben sollte, würde es aus den Kisten genommen und benutzt werden können. Es hat Tage gegeben, an denen den jungen Officier der wirkliche Besitz eines silbernen Tellers vor den Klauen gemeiner Wucherer gerettet hätte; es gab auch eine Zeit, wo ihn sein Antheil an dem Silberschatz zu einem glücklichen Mann machen konnte, der auch die Güter besitzen durfte, welche das Leben veredeln und verschönen. Aber das Testament bestand einmal, und ein Mensch, der nicht das Hemd auf dem Leib sein eigen nennt, wird von keinem vernünftigen Vater zum Schwiegersohn erwählt.“

Er wehte sich Kühlung mit dem Battisttuch zu, das wie Halskragen und Manchetten lila umsäumt war, und fuhr fort: „In diesem Fall war es nichts mit der Gründung eines traulichen Heims. Ja, wenn er so klug gewesen wäre wie seine jüngeren Brüder, die, ohne viel zu fragen, die Töchter aus der Spinnerei sich holten, welche von den Steinen der alten Ravensburgk erbaut worden war! Aber er hatte als der Aelteste noch die letzten Jahre seines Großvaters verschönt, der mit ihm jeden Tag vor der Frühstücksmilch seine sechzehn Ahnen rekapitulirte und einen Fehler dadurch bestrafte, daß er den kleinen Burschen mit dem Schürzchen ‚Er‘ nannte. Er war als Page am Hofe aufgewachsen, wo er mit zehn Jahren um seines alten Namens willen sich stets erkoren sah, den höchsten Damen die Schleppe zu tragen. Gefühle und Ansichten lassen sich nicht wechseln wie ein zu eng gewordenes Kleid. Wenn die, welche über den wüsten Ravensburgk den Stab brechen, wüßten, was er gelitten hat, ehe er so wüst wurde, sie würden vielleicht so milde urtheilen – wie Sie.“

Er hatte gelassen gesprochen, dazwischen mit der ihm eigenen süffisanten Art die Gräfin Scultizka gegrüßt, die in einer roth ausgeschlagenen Eselsequipage, das Gebetbuch in der Hand, den Rosenkranz um das Handgelenk geschlungen, zur Messe nach der Waldkapelle fuhr. Und doch schnitten seine Worte tief in Hedwig’s Herz.

„Aber das Schicksal hat zurückgegeben, was es Ihnen früher entzog,“ erwiderte sie in tröstendem Tone. „Längst ist die Sequestration ihres Gutes aufgehoben. Und Sie haben eine Stellung, die Ihren Neigungen entspricht.“

„Glauben Sie, daß es nicht zu spät ist, ein neues Leben zu beginnen?“ fragte Ravensburgk, und der Klang seiner Stimme konnte seine tiefe Bewegung nicht verleugnen.

Hedwig schwieg bestürzt. Es kam ihr eine Ahnung, daß sie vor eine Entscheidung gestellt werden sollte.

Mit mühsam beherrschtem Tone fuhr Ravensburgk fort: „Glauben Sie, daß ein edles weibliches Wesen sich noch der Mühe unterziehen würde, einem Mann wie ich bin die Hand zur Umkehr zu reichen? Glauben Sie, daß die vergötternde Liebe und Dankbarkeit eines viel verkannten Menschenherzens wieder Liebe erwecken könnte? Vom Mitleid zur Liebe soll ja nur ein kleiner Schritt sein für hochherzige Frauenseelen.“

„Würde Ihnen Mitleid genügen?“ fragte Hedwig, leise den Kopf schüttelnd.

„Wer weiß!“ entgegnete er fast demüthig.

In Hedwig’s Herzen stieg Georg’s Bild auf. Trotz der bitteren Enttäuschung, die er ihr durch sein launenhaftes Benehmen bereitet hatte, wirkte die Erinnerung an ihn wie eine Erlösung. Was würde er für grimmige Augen machen, wenn ihm Mitleid statt Liebe gezollt werden sollte! Sie wußte auf einmal, was das allein Rechte war.

„Nein,“ sagte sie mit weicher Stimme, in die ihre Theilnahme für Ravensburgk hinein klang, „Mitleid kann einem charaktervollen energischen Mann auf die Dauer nicht genügen. Es ist auch nicht das Gefühl, mit dem sich ein Heim gründen läßt. Tiefe Liebe deckt vielleicht auch den Schleier über eine dunkle Vergangenheit. Aber ohne dieses göttliche Gefühl würde für beide Theile nur Beschämung aus dieser Verwechselung der Gefühle entspringen.“

Es war, als hätte sein Fuß gestockt. Aber im nächsten Augenblick schritt er so leicht und elegant wie immer weiter. „Mit solchen hoch gespannten Ansichten vereinsamt man im Leben,“ sagte er endlich herbe.

„Das Schicksal fürchte ich nicht,“ antwortete Hedwig in sicherem Tone. „In dem Altenhaus auf Grundleben ist Niemand verlassen gestorben.“

Ravensburgk lachte unmuthig auf. „Es könnte Ihnen genügen, Ihr Leben lang nichts weiter zu thun, als zwischen den zwei Drachenköpfen der Dachtraufe am Altenhaus in die langweilige Ebene zu schauen?“

„Wer sechs Geschwister hat, von denen das jüngste noch im Laufstühlchen herum rennt, braucht keine Sorge um eine nützliche Beschaftigung zu tragen,“ entgegnete Hedwig warm; „und vor den Drachenköpfen fürchte ich mich nicht. Wohl aber,“ fügte sie leise hinzu, „vor dem Drachen der Lüge, der die Menschen verleitet, sich und Andere zu betrügen.“

Sie sah bittend zu ihm auf. Sein finsterer Blick verging vor den Thränen, die in ihren Augen standen, vor dem wehmüthigen resignirten Zug um den lieblichen Mund.

Er bot ihr die Hand mit einem Lächeln, das wie der Abglanz längst vergangener Jugend die düsteren Züge verschönte, und sagte mit einer Stimme, die tief aus dem Herzen kam: „Nun, Freunde bleiben wir auf jeden Fall!“

Während Hedwig diese Entscheidung traf, sprengte von der andern Seite Georg Aufdermauer nach Jungbrunnen hinein.

In den finster hingebrüteten Tagen und schlaflosen Nächten der letzten Zeit war ihm der Gedanke gekommen, die Neigung zwischen Hedwig und Heino sei eine Vetternliebe, die in der Kinderstube zu beginnen und mit dem Eintritt in das Leben zu enden pflegt. Die Beiden hatten sich ja gar nicht um einander gekümmert, als er mit ihnen zusammen gewesen war.

Er fühlte sein Gewissen als Freund nicht mehr belastet durch seinen Wunsch, das reizende Kousinchen Heino’s für sich zu gewinnen.

Und was vielleicht die alten Perückenstöcke, die Eltern, in ihrer aristokratischen Beschränktheit geplant hatten, darum brauchte sich ein vernünftiger Mann nicht zu kümmern, wenn es ihm gelang, diese Vorurtheile bei dem liebenswürdigen Mädchen durch seine persönlichen Vorzüge zu besiegen. Im Gegentheil! Das war eine gute That.

Er erinnerte sich mit Vergnügen ihres Erröthens bei seinem Anmarsch, ihrer Verwirrung, als er die Laufgräben gegen die Festung eröffnete; und von neuem Muth beseelt, beschloß er noch einmal einen Streifzug zu unternehmen, bevor er sich gänzlich aus dem Felde schlagen ließ.

Er kam zunächst als Entsatz für den Geheimen Medicinalrath, den Frau von Blachrieth seit einer Stunde blockirt hatte, um ihm alle Mängel und Tücken seiner Quelle zu klagen. Der würdige Herr benutzte Georg’s Ankunft zu seinem Rückzug, indem er ihr mit wichtiger Miene die Weisung gab, morgen einen Becher weniger zu trinken.

Auch Frau von Blachrieth wendete sich sichtbar beeifert dem neuen Ankömmling zu. „Gott sei Dank, daß Sie endlich einmal wieder sich sehen lassen, Herr Hauptmann. Ich hatte mir von Ihrer Freundschaft thätigeren Antheil an uns versprochen.“

„Die Heuernte hielt mich daheim fest,“ entgegnete Georg, mit gespanntem Blick den Kurplatz überfliegend. „Wo ist Ihr Fräulein Nichte? Ich möchte auch sie begrüßen.“

„Ach, lassen Sie doch Hedwig,“ antwortete Frau von Blachrieth verdrießlich. „Sie wird mit Ravensburgk promeniren, wie jetzt immer. Um sie bin ich nicht in Sorge. Aber Heino! Ich hatte so bestimmt darauf gerechnet, daß Sie ihn von dem ewigen Dichten abziehen würden.“

„Aber das ist doch einmal sein Metier,“ erwiderte Georg ungeduldig und spähte hinüber in die Promenade.

„Ich bin ja auch nicht gegen das Dichten,“ rief Frau von Blachrieth ganz verzweifelt; „aber der Stoff ist’s, der mich ängstigt, der Stoff!“

Ist das eine verdrehte Frau! dachte Georg wüthend. Laut sagte er: „Vom Stoff verstehe ich gar nichts und werde mich niemals in etwas mischen, was mir unklar ist. Ich bitte deßhalb gehorsamst, in dieser Angelegenheit nicht auf meine Dienste zählen zu wollen. Mein Kompliment, gnädige Frau.“ Er drehte sich um und marschirte ab.

Dort drüben unter den Kastanien hatte er sie entdeckt. Im Sturmschritt eilte er vorwärts.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_362.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2021)