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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

die andre Seite von dem Mond, der eben über die Giebel heraufkam, hell beleuchtet war. Auch hoffte ich hier im Nothfalle mich hinter einem der Kellerhälse, oder in irgend einer jener dunklen unendlichen Gänge - wie jener, aus dem ich gekommen - eher verbergen zu können. Daß ich im Grunde keine Ursache habe, meinen Verfolgern auszuweichen, sondern ihnen kühn die Stirn bieten müsse und mir einen freien Abzug ertrotzen - daran dachte ich auch nicht einen Augenblick. Vielmehr war meine Seele von einer Angst erfüllt, die etwas Grauenhaftes hatte und mir jede klare Besinnung raubte: sie hätten zweifellos die Macht, mich festzuhalten, zur Umkehr zu zwingen, und ich müßte noch einmal ihm, vor dem ich geflohen war, gegenübertreten. Lieber sterben! wiederholte ich mir fortwährend, indem ich so mit klopfendem Herzen, auf jedes Geräusch lauschend, mit starren Augen das Dunkel durchspähend, an der Häuserzeile hinstrich.

Ich war bis jetzt nur wenigen Personen begegnet und keiner, die meine scharfen Augen nicht schon aus einiger Entfernung als unverdächtig erkannt hätten. Auch bemerkte ich zu meiner großen Beruhigung, daß ich mich jetzt in der rechten Richtung bewegte. Das mußte die Hasenwache sein, die ich von meinem Fenster im Gasthof hatte liegen sehen - das die hohen Masten des Auswandererschiffes, welches mir der Wirth gezeigt hatte - ich konnte nur noch etwa fünfzig Schritt bis zum Saxonia-Hôtel haben. Und da war es mit seinen beiden Giebeln, schräg vom Monde beschienen, der auf den krummen Fensterzeilen glitzerte und - auf drei Gestalten fiel, die vor der Thür standen. Im nächsten Moment war ich in einen jener schmalen Gänge getaucht, dessen schwarzer Mund sich gerade an der Stelle, wo ich mich befand, nach links zwischen den Häusern aufthat. Ich hatte in den Gestalten Weißfisch, den Polizisten von vorhin und meinen Wirth völlig deutlich erkannt - denn ich war höchstens noch dreißig Schritte entfernt gewesen, und nur ein paar großen Fässern, welche bis. beinahe auf das Trottoir gewälzt waren, und hinter denen ich eben hervortreten wollte, hatte ich es zu verdanken, daß sie mich nicht ebenfalls gesehen.

Wenn sie mich nicht gesehen! Gleichviel: man war mir auf der Spur und hart auf den Fersen. Das gehetzte Wild mußte seine ganze Schlauheit aufbieten, wollte es den Jägern entrinnen.

Und nun kam auch etwas von jener Ruhe über mich, deren ich mich in den kritischen Momenten meines Lebens noch immer zu erfreuen gehabt hatte. Ich überlegte, was ich thun sollte, wenn der Gang, wie ich hoffte, auf der anderen Seite einen Ausweg hatte, und was, wenn er sich als eine Sackgasse erwiese. Im ersteren Falle wollte ich auf dem kürzesten Wege, den ich auffinden könnte, zum Hafen zurückkehren und - von welchem Punkte auch immer - ein Boot, das mich ans Schiff brächte, und wäre es um den ganzen Rest meiner Baarschast, zu erlangen suchen; im zweiten hier in dem Gange noch eine halbe Stunde bleiben und dann umkehren, auf die Gefahr hin, meinen Verfolgern in die Hände zu laufen. Die „Cebe" sollte um zwei Uhr die Anker lichten;; bei dem trüben Schein, der aus einem Fensterchen in dem Gäßchen dämmerte, las ich von meiner Uhr halb zwölf; ich konnte nicht wissen, wie lange es währen würden bis ich ein Boot fand; die andere Gefahr also, daß, wenn ich zögerte, das Schiff ohne mich abging, war nicht minder groß.

In dem Gäßchen, das keine acht Fuß breit sein konnte und bei der Dunkelheit noch schmaler schien, war es völlig still; so leise ich auftrat , hallte mein Schritt doch unheimlich laut auf dem holperigen Pflaster, welches wie mit einem zähen Schleim überzogen schien, so daß mein Fuß fortwährend ausglitt. In den Jammerhöhlen zur Rechten und zur Linken mochten hier und da die Fenster aufstehen; ich vernahm, wie ich so vorüberschlich, dann und wann röchelndes Schnarchen oder das erstickte Wimmern eines Kindes oder ein paar dumpfe Worte, wie von Leuten, die aus dem Halbschlaf heraus zu einander sprechen. Ein mephitischer Dunst, der von der Gasse selbst, aus den Baracken herausqualmte, benahm mir fast den Athem, und immer noch wollte das entsetzliche Gäßchen kein Ende nehmen.

Da hörte ich plötzlich ein Geräusch wie von Schritten. Lauschend, mich dicht an die Wand drückend, blieb ich stehen. Ich hatte mich nicht getäuscht: es waren Schritte, hinter mir das Gäßchen herauf, und von mehreren Personen, mindestens zweien, wenn nicht dreien, die sich schnell näherten, da sie offenbar nicht, wie ich, eine ängstliche Vorsicht beobachten zu müssen glaubten. Wer sollte das sein, wenn nicht meine Verfolger? Noch war mein Vorsprung groß genug, daß ich im Schutze der Dunkelheit ihnen zu entkommen hoffen durfte. Ich that ein paar eilige Schritte, verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und glitt mit Blitzesschnelle, seltsamerweise, ohne zu fallen, die klebrigen Stufen einer Holztreppe hinab, die unten in einer Thür endete, durch deren oberen Theil ein mattes Licht dämmerte. Von den gewaltsamen Verrenkungen, durch die ich mich beim Hinabgleiten instinktiv vor dem Fallen bewahrt hatte, in allen Gliedern wie gerädert, lehnte ich noch keuchend in der Ecke von Thür und Treppenwand, als die Tritte meiner Verfolger bereits über mir in dem Gäßchen erschallten. Sie standen unmittelbar an der Treppe still, und in demselben Moment blitzte ein scharfer Schein schräg die Stufen hinab hart an mir vorüber, der ich mich gerade in die andere Ecke gedrückt hatte. Es war glücklicher. weise auch eben nur für einen Moment, dem sofort wieder die alte Finsterniß folgte.

„Was giebt es?“ hörte ich Weißfisch’s Stimme.

„Nichts!“ war die Antwort. „Eine alte Gewohnheit, wenn ich hier vorbeikomme. Die Hinterthür zu einem Lokal, das ihr in Berlin einen Verbrecherkeller nennen würdet."

„Da kann er nicht sein?"

„O nein," sagte der Beamte. „Dazu gehört mehr.“

„Wenn er nicht am Hafen zu finden ist, ist er nirgends zu finden," hörte ich eine dritte Stimme sagen, die wohl dem Wirth gehören mochte.

„Ich will nur noch eben den Gang zu Ende gehen," sagte der Polizist. „Die Herren können hier stehen bleiben, oder auch gleich umkehren. Umkehren müssen wir so wie so; es ist eine Sackgasse."

„Und eine reizende Gasse," sagte Weißfisch, „in der man sich Hals und Beine brechen kann. Wenn Sie doch nur wenigstens ihre Laterne auflassen wollten!"

„Dann könnte ich sie ebenso gut ausmachen," sagte der Beamte lachend. „Also ich treffe Sie am Hafen wieder."

Man trennte sich. Der Beamte ging die Gasse weiter hinab, die Anderen kehrten um. Sobald die Schritte nach beiden Seiten ncht mehr zu vernehmen waren, pochte ich leise gegen die Thür. Der Beamte konnte, zurückkommend, aus „alter Gewohnheit" die Treppe noch einmal hinableuchten und weniger flüchtig als das erste Mal. Ich pochte stärker, da keine Antwort erfolgte, trotzdem ich jetzt dumpfe Stimmen von drinnen zu vernehmen glaubte. Was sollte ich beginnen? In wenigen Minuten mußte der Beamte die Treppe abermals passiren „So öffnet mir doch!" rief ich durch das Schlüsselloch, das ich endlich entdeckt hatte. Und wirklich drehte sich ein Schlüssel. Die Thür wurde vorsichtig so weit zurückgezogen, als die Sperrkette es zuließ; durch die Spalte sah ich das brutale Gesicht eines Kerls, der mir jetzt mit der Laterne, die er bei sich führte, in das Gesicht leuchtete.

„Was wollt ihr?"

„Obdach."

„Könnt ihr bezahlen?"

„Ja.“

Die Sperrkette wurde geräuschlos ausgehoben, und die Thür geöffnet, daß ich eben durchschlüpfen konnte. Dann schloß der Mann hinter mir ab, hängte die Kette wieder ein und beleuchtete mich, die Laterne hebend, von Kopf bis zu Fuß und wieder bis zum Kopf. Das Examen schien günstig für mich ausgefallen zu sein. Von einem Menschen wie ich, mochte mich nun hergeführt haben, was da wollte, hatte man offenbar nichts zu fürchten.

„Kommen Sie!" sagte der Mann.


(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_406.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2019)