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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Das Publikum der Kunst.

Von Fritz Mauthner.


In der Hochfluth der künstlerischen Begeisterung, welche die Eröffnung der großen Jubiläumskunstausstellung in Berlin über uns heraufbeschworen hat, möchte auch ich einen kleinen Beitrag bringen; nur vier winzige Geschichten, von denen die drei ersten den Vorzug haben, buchstäblich wahr zu sein. Für die Echtheit der vierten kann ich selbst nicht bürgen, doch hat ein glaubwürdiger Mann sie mir berichtet. Meine harmlosen Anekdoten sind weder symbolisch noch allegorisch; Jedermann erlebt solche kleine Abenteuer auf jeder Bilderausstellung, und ich schreibe mir bei der Wiedergabe kein anderes Verdienst zu, als dieses: die charakteristische Aeußerung aus dem gleichgültigen Beiwerke rein ausgeschält zu haben. Denn nicht Alles, was man um sich her in Galerien sprechen hört, ist erzählenswerth dumm.

Der erste Ausspruch, den ich zu berichten habe, stammt aus der Masse der wackeren Leute, welche vor berühmten Bildern stehen bleiben, weil sie Andere schon davor stehen sehen. Es sind dieselben Menschen, welche auf der Straße unwillkürlich einen Auflauf vermehren helfen, wenn ein Kind überfahren worden ist, oder wenn eine fremdländische Uniform sich zeigt. Die geistige Bescheidenheit dieser ewigen Majoritätsläufer ist so rührend, daß nur die Bosheit über sie lachen kann. Also nicht lachen!

Es war in Kassel und irgend ein Vereinstag. In der Galerie drängten sich die wackeren Vereinsmitglieder. Hinter mir machte ein Gastwirth den Erklärer.

„Du, das Bild mußt Du sehen, das ist von Rafael.“

„Was ist denn daran so Rares?“

„Das weißt Du nicht? Rafael ist ein weltberühmter Maler. Er hat alle seine Bilder mit den Fußen gemalt, weil er ohne Hände geboren worden ist.“

Wörtlich. Einen Geschichtsforscher mag die Untersuchung locken, wie hier das bekannte Paradoxon Lessing’s mythenbildende Kraft bewiesen hat. Ich aber muß gestehen, daß ein Meister der Reklame für Rafael nicht mehr hätte thun können, als dieser ehrliche Gastwirth in seiner Unschuld that. Das Gesicht, mit welchem seine Begleiter das Bild ansahen, weil es mit den Fußen gemalt war, glich auf ein Haar der Verblüffung, mit welcher die Sehenswürdigkeiten einer Hauptstadt von Ungeübten betrachtet werden. –

Den zweiten Ausruf verdanke ich einer Dame, welche ohne Zweifel den oberen Zehntausend, den Blasirten, angehörte. Diese Auserwählten unterscheiden sich von der blinden sensationsgläubigen Menge vor Allem dadurch, daß sie in jedem Bilde, welches von ihnen bemerkt werden will, irgend eine persönliche Beziehung entdecken müssen. Es ist nicht gerade nothwendig, daß sie den Maler oder den Gegenstand des Bildnisses kennen; es genügt, wenn sich vom Maler oder vom Modelle etwas erzählen läßt. Und steht der Stoff des Bildes zu hohen Kreisen oder zu einem Erdbeben oder zu der neuesten Mode in einem menschlichen Verhältniß, so ist das Kunstwerk schon einer halben Minute und einer halben Aeußerung werth.

Es war also vor einigen Jahren zu Berlin in der akademischen Ausstellung. Im letzten Saale hing ein Bild, dessen sich viele Besucher noch erinnern werden; ich glaube, es war von einem Belgier. Vor uns die unabsehbar weite Fläche des Meeres. Und rechts und links die unabsehbar weite graugelbe Fläche der Düne. Der Berliner Kreuzberg würde sich von dieser mathematischen Ebene wie ein Chimborasso abheben. Im Vordergrunde sieht man zwei lebensgroße graue Esel, auf denen bunte Kinder reiten. Und vor dem Bilde stehen zwei lebendige Damen in tadellos eleganten Frühlingskostümen. Es sind Mutter und Tochter.

„Ganz wie aus dem Rigi,“ erklärt die Mutter laut und energisch und will weitergehen.

„Aber Mama,“ flüstert die Tochter, „man sieht doch nicht das Berner Oberland?“

„Da hast Du Recht, Else, die Berge sind dort höher. Aber sonst – die Esel – ganz wie auf dem Rigi.“ –

Meine dritte Geschichte spielt in zwei Akten, der Schauplatz ist Dresden, die handelnden Personen gehören einer höheren Menschenklasse an: es sind Kenner. Diese beneidenswerthen Sterblichen haben bekanntlich das Schöne mit so großen Löffeln gegessen, daß sie für das bescheidene Genießen eines Laien kein Verständniß mehr haben. Wo unser einer bewundert, da forschen sie; wo wir schweigen, da halten sie Vorträge.

Es war also in der Dresdener Galerie, an einem Tage, wo höchstens zehn Menschen das Eintrittsgeld gewagt hatten. Es war schön still in den Räumen. Nur zwei Herren machten sich durch ihre lauten Reden bemerkbar; doch was sie sprachen, war höchst lehrreich für die wenigen Besucher, die auf hundert Schritt in ihre Nähe kamen. Die „Schulen“, „Tinten“, „Lasuren“ und „Gründe“ flogen nur so durch die Luft. Der ältere Herr, ein Einheimischer, docirte. Der Jüngere, ein Ostländer, war offenbar zum ersten Mal in der Galerie. Ich war so glücklich, dreimal ihren Weg zu kreuzen. Dann stampften sie in die Kapelle der Sixtinischen Madonna, wo ich ein Weilchen allein gewesen war. Sie verstummten für mehrere Minuten. Offen gesagt, ich war begierig, ein anregendes Wort von so beredten Lippen zu hören. Endlich sprach der Jüngere:

„Ja, Sie habea Recht. Scheußlich!“

Und sie stampften hinweg.

Ich weiß nicht, ob mich die Sehnsucht, die Lösung dieses räthselhaften Rufes zu erfahrea, jemals hätte zur Ruhe kommen lassen. Den ganzen Tag gingen mir die Worte des Kenners im Kopfe herum. Aber ich hatte Glück; ich traf die Herren Abends im Theater wieder. Ich verfolgte sie in ihr Gasthaus, und dort bei Tische, nachdem die Bekanntschaft gemacht war, durfte ich endlich fragen, was in dem Allerheiligsten der Galerie ihren Zorn erregt hatte.

Der alte Dresdener schien froh, seine Kenntnisse an den Mann bringen zu können.

„Das Interessanteste an der Sixtina ist die rechte Hand des Papstes,“ sagte er. „Das ist das Einzige, was lohnt. Die Verkürzung ist hier nämlich so ungeschickt ausgefallen, daß es aussieht, als hätte seine Heiligkeit sechs Finger an der rechten Hand. Das müssen Sie sehen, und wenn Sie drum noch einen Tag in Dresden bleiben sollten.“

Und der jüngere Herr rief noch einmal: „Sie haben ganz Recht – schenßliah!“ –

Nummer vier habe ich, wie gesagt, nicht selbst erlebt; doch selbst, wenn mein Gewährsmann das Ganze erfunden haben sollte, wäre es zu beachten, denn es handelt sich um eine Menschenschicht, welche von den Künstlern fast noch höher gestellt wird, als die der Kenner: es handelt sich um Käufer.

Kam ein solcher in den Laden und verlangte ein Pendant zu seinem Achenbach, einer Mühle am Bach. Der Händler hatte etwas Passendes im Hinterzimmer hängen. Der Preis war mäßig, 300 Mark. Der Käufer lachte. Auch schien ihm das Bild um einen Zoll zu hoch zu sein. Der Händler schnitt einen Zoll von der Leinwand ab und empfahl das Bild dem selben Besucher vier Wochen später für 1000 Mark. Der Käufer lächelt.

„Ich brauche ein besseres Bild. Neben Achenbach, ich bitte Sie! Auch ist es um zwei Zoll zu breit.“

Der Händler schnitt zwei Zoll von der Leinwand ab und besorgte einen großen Rahmen. Als der Herr wiederkam, verlangte der Verkäufer 3000 Mark. Das Geschäft kam zu Stande.

„Das nenn’ ich doch ein Bild!“ rief der Käufer. „Aber sagen Sie! Haben die billigen Bilder, die Sie mir aufreden wollten, nicht ganz ähnlich ausgesehen?“

„Die Maler werden dasselbe Motiv benutzt haben, das kommt oft vor,“ sagt der Händler. „Sie können zufrieden sein, und stolz auf Ihren Blick. Sie besitzen einen echten Müller-Rügenwalde. Es ist ein werthvolles Bild, ein sibyllinisches Bild.“




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_407.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2023)