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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

unverfälschtem Berliner Dialekt), dafür aber mit seinen hinter den dicken rothen Backen fast verschwindenden Augen (von denen das eine noch dazu bedenklich schielte) sehr scharf beobachtete und jedenfalls mich, ohne daß ich es gewahr geworden wäre, sehr scharf beobachtet hatte.

Der nun hielt mich eines Tages, als ich mit höflichem Gruße an ihm vorüber wollte, auf dem Holzhofe an und sagte, daß er mit mir zu sprechen habe. Mir schlug das Herz. Ich hatte ihm freilich die seit einem halben Jahre rückständige Miethe vor ein paar Tagen bezahlt; aber es war noch ein großer Posten von ihm entnommener Bretter zu begleichen, und meine Kasse war bis auf eine kleine, bereits zur Abtragung einer andern Schuld bestimmte Summe leer. So war mir denn übel zu Muthe, während ich dem Manne in sein Komptoir folgte, das sich in einem mitten auf dem Hofe errichteten Holzhäuschen befand; ja, ich machte mich auf das Schlimmste gefaßt, als er jetzt seinen „jungen Mann“ mit irgend einem Auftrage wegschickte und, nachdem er mich gebeten, Platz zu nehmen – auf einem kleinen schwarzen Sofa, welches ganz dem in I. I.’s Komptoir, schauerlichen Andenkens, glich – in dem Hintergründe des Gemaches mit dem Schlüsselbunde an einem Schranke zu rasseln begann, um aus demselben, wie ich nicht zweifelte, jene unbeglichene Rechnung hervorzuholen.

Da war es denn eine überaus erfreuliche Empfindung für mich, als Herr Kunze aus dem fragwürdigen Schranke anstatt der erwarteten Rechnung eine höchst unerwartete Flasche Rothwein nebst zwei Gläsern hervorholte, welche erfreulichen Dinge er auf dem kleinen Tische vor dem Sofa sorgsam aufbaute, um, nachdem er die Gläser gefüllt, mit mir angestoßen und nachdenklich das seine bis zur Hälfte geleert hatte, zu sagen, was er schon seit vierzehn Tagen auf dem Herzen habe; aber er sei ein vorsichtiger Mann und seine Maxime sei: trau, schau, wem?

Mir nun glaube er so weit trauen zu dürfen. Mein Bruder sei, mit Vergunst, ein Schwachkopf und Faselhans, den er schon längst aus dem Hause und vom Hofe gejagt, wenn ihn die Frau und die Kinder nicht gejammert hätten. Und auch so würde er binnen Kurzem dazu gezwungen gewesen sein, wäre ich nicht gekommen, und hätte er nicht gesehen, daß ich mir rechtschaffene Mühe gebe, den Karren aus dem Schmutze zu ziehen. Da wolle denn auch er seine Schulter ein bischen ans Rad legen, und über die unbezahlten Bretter solle ich mir nur keine Sorge machen; im Gegentheile! Er sei bereit, das schlechte Zeug, so viel noch davon vorhanden, zurückzunehmen und uns dafür gutes, brauchbares Holz für denselben billigen Preis zu geben. Auch habe er für uns einen namhaften Auftrag, den er uns zuwenden wolle, wenn ich mich für solide Arbeit und prompte Lieferung verbürge.

So weit war gewiß Alles gut und mehr als das. Nun aber kam ein schlimmer Punkt, welchen der dicke Herr, trotzdem ich wiederholt davon abzulenken suchte, mit unbehaglicher Hartnäckigkeit in sein schielendes Auge faßte. Ich hätte doch wohl gesehen, daß er ein Mann sei, mit dem sich reden lasse, und ich gefiele ihm so weit ganz wohl; aber ich würde ihm noch besser gefallen, wenn ich ihm gefälligst sagen wollte, mit wem er denn eigentlich die Ehre habe? So viel habe er nun schon heraus – trotzdem ich ja in der Werkstatt fleißig mitarbeite und auch vom Rechnungswesen Einiges verstehe – ein gelernter Tischler sei ich nicht, ein gelernter Kaufmann ebenso wenig, überdies eigentlich gar nicht Otto’s Bruder, wie er gelegentlich von den Hopps erfahren, die ja so große Stücke auf mich hielten. Das Alles gehe ihm sehr durch den Kopf, und wenn er auch die Neugier den Weibern überlasse, so sei doch sein erster Grundsatz immer trau, schau, wem? gewesen, und sein zweiter: den Leuten reinen Wein einzuschenken.

Herr Kunze hatte bei diesen Worten das Glas erhoben, diesmal aber nicht, um mit mir anzustoßen, sondern um mit dem gesunden Auge durch das purpurne Naß zu blicken, während er das schielende starr auf mich gerichtet hielt, als auf ein zweites Glas, in welchem er eben so „reinen Wein“ zu sehen wünsche, wie in jenem. Ich hatte mir unterdessen überlegt, daß es zweifellos das Beste sei, dem Manne seinen Willen zu thun, das heißt, ihm aus meinem Leben und von meinen Verhältnissen so viel mitzutheilen, wie nöthig war, sollte ich vor seinen Trauschau-wem-Augen nicht als ein Hansdampf, wohl gar noch etwas Schlimmeres erscheinen.

„Wenn Sie’s man durchhalten,“ sagte Herr Kunze, nachdem ich meine aus einem gut Theil Wahrheit und einer kleinen Portion Dichtung klüglich gemischte Erzählung geläufig genug vorgetragen hatte. Ich meinte, er spiele auf meinen schwachen rechten Arm an, von dem ich allerdings einräumen mußte, daß er mir schon ein paarmal bei besonders schwerer oder andauernder Arbeit hinderlich gewesen sei.

Herr Kunze schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht,“ sagte er, „obgleich es auch ins Gewicht fällt. Aber sehen Sie, lieber Herr Lorenz, da wollte mir vorgestern Einer ein Pferd verkaufen – ein Milchmann – für ein Spottgeld – er hatte es in der Lotterie gewonnen – es wolle partout nicht vor seinem Karren gehen. Ein wunderschönes Pferd, sage ich Ihnen – für einen Gardelieutenant. Ich konnt’s nicht brauchen. Sie nehmen es mir nicht für ungut, lieber Herr Lorenz; ich habe es nicht bös gemeint. Im Gegentheil! Ich wünsche von Herzen, daß Sie’s durchhalten. Darauf lassen Sie uns das letzte Glas trinken! Und, wie gesagt: Wurst wider Wurst! das ist immer mein Grundsatz gewesen.“

Ich trank das Glas von ganzem Herzen und ohne eine Spur von Empfindlichkeit gegen den Mann der vielen Grundsätze.

Sein Gleichniß mit dem Gardelieutenantspferd war ein wenig grell; aber ich halte mir die Frage: ob ich es durchhalten werde, in der ersten Zeit jeden Tag mehr als einmal vorgelegt, und wenn ich darauf natürlich immer mit Ja geantwortet – zuversichtlich war dies Ja nicht gewesen und hatte es nicht sein können.

Ich war kein Romanheld, ich war ein Mensch, der sich eine furchtbar schwere Last aufgeladen, grausam unter derselben litt und unfehlbar in kürzester Frist zusammengebrochen wäre, hätte er nicht zu Denen gehört, die – ohne daß sie sich ein Verdienst daraus machen dürften oder wollten, sondern weil eben ihre eingeborene Natur nicht anders kann – es von Kindesbeinen an bitter ernst mit dem Leben nehmen, es handle sich um Großes oder Kleines.

Der Sommer hatte sich bereits zum Herbste gewandt, zusehends kürzer wurden die Tage; das Wetter war für die Jahreszeit ungewöhnlich rauh; selten daß die Sonne aus den Wolken hervorblickte, die sich bleiern von West nach Ost über den Himmel schoben, endlose Regengüsse herabschüttelnd, unter welchen die Lachen auf dem weiten Zimmerplatze von Tag zu Tag größer und die Luft in unserem engen, hart am mürrisch sich vorüberwälzenden Flusse gelegenen Hause dumpfer und schwerer wurde. Aber auf dem verregneten Platze, wenn mich mein Weg über denselben führte, begegneten mir nur Menschen, die mich freundlich, ja respektvoll grüßten, und aus dem feuchten Hause war die bange Trostlosigkeit gewichen, welche mich in der ersten Zeit tausendmal schwerer gedrückt hatte, als jetzt die dumpfe Luft. In der Werkstatt roch es gewiß noch nach Leim und Brettern; aber der Leim war von bester Qualität, und die Bretter, welche Herr Kunze selbst ausgesucht hatte, machten seinem Trau–schau–wem–Grundsatze alle Ehre. Wir hatten, die schleunige Arbeit zu bewältigen, einen Gesellen einstellen müssen, der mich anfangs nicht für voll nehmen wollte, bis ich ihm zu seiner Verwunderung nach wenigen Tagen die paar besonderen Handgriffe, auf die er sich mächtige Stücke einbildete, abgesehen hatte, und der mich jetzt um Rath fragte, wenn er mit seiner Kunst, was bald geschah, zu Ende war. Darüber versank denn Wohl Otto mitten in der Arbeit in melancholisches Grübeln und seufzte tiefer als je – der arme Kerl! Aber diese Molluskennatur ihrer angeborenen und angewöhnten Schlaffheit zu entreißen, hatte ich aufgeben müssen; ich mußte zufrieden sein, daß er mich wenigstens gewähren ließ; mir erlaubte, bis die Sonne der Socialdemokratie den Sumpf des allgemeinen Elends ausgetrocknet, ihn und die Seinen auf das Trockene zu retten.

Wußte er mir keinen Dank dafür, nun wahrlich, ich begehrte keinen, und was er mir vorenthielt, wurde mir von der Frau und den Kindern so reichlich gewährt, daß ich mich Wohl für entschädigt halten durfte. Nicht daß Anna viel Worte gemacht hätte.

Aber was sie nicht aussprechen wollte oder konnte – es klang aus ihrer Stimme, welche den mürrisch–weinerlichen Klang von Tage zu Tage mehr verlor; es gab sich kund in tausend Kleinigkeiten, die mich zu gleicher Zeit ergötzten und rührten.

Auch die Kinder waren mit Freuden in die neue Ordnung getreten, die „Onkel Lothar“ so viel Freude zu machen schien.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_471.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2018)