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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sie hatten bald herausgefunden, daß er ihnen gern bei ihren kleinen Aufgaben half; des Abends, wenn ihm auch manchmal vor Müdigkeit fast die Augen zufielen, wunderschöne Geschichten erzählen und des Sonntags mit ihnen spielen konnte – gleichviel ob draußen auf dem Hof oder im Zimmer bei schlechtem Wetter – wunderschöne Spiele, von denen sich ihre kleine verkümmerte Phantasie nichts hätte träumen lassen. Und das war ein Lachen und Jauchzen, wie die öden Räume es noch nie vernommen! und dabei war der Glücklichste von der lärmenden Gesellschaft vielleicht Onkel Lothar selbst! Er hatte endlich einmal wieder Wesen, an die er sein Herz hängen konnte, ja, er hatte sie so zum ersten Male in seinem Leben: kleine, bedürftige Geschöpfe, die nach ihm um Liebe und Hilfe blickten, ihm vertraulich auf die Kniee kletterten und hinter ihm hergelaufen kamen, wenn er einen Ausgang zu machen hatte, ihn noch ein Streckchen zu begleiten, und, die kleine schmutzige Hand in seine legend, eifrig plaudernd neben ihm hertrippelten. Sie waren nicht schön, die Kinder – Lieschen hatte eine hohe linke Schulter, Karlchen einen Ansatz zu einer Hasenscharte, Rudolphchen watschelte auf Säbelbeinen, bei Häuschen war es nicht ganz richtig im Kopf. Auch die drei erstgenannten zeichneten sich nicht durch geistige Begabung aus – Kinder, Alles in Allem, eher unter als über dem Durchschnittsniveau – aber ich liebte sie doch und, ich glaube, besser, als wenn sie die schönsten und geistreichsten Prinzchen und Prinzessinchen gewesen wären. Ich las jetzt, nachdem sich mein Körper an die ungewohnte Arbeit mehr gewöhnt und meinem Geist die alte Freiheit zum Theil zurückgegeben hatte, gar viel in der Bibel, und wenn ich an den Spruch kam: „die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken“, dachte ich zuerst an die kleine hochschultrige, hasenschartige, krummbeinige, dümmliche Schar, die da unter mir, immer zu zwei, in ihren engen Bettchen schlief, und an die sorgenvolle, arbeitgequälte Frau, in deren matten Augen ich einen schwachen Strahl vorher nicht gekannter Lebensfreudigkeit entzündet, und an den passiven Bruder, der dem moralischen Hausarzt nicht beistehen, die Schulter nicht – wie doch der gar nicht betheiligte Herr Kunze – an den festgefahrenen Familienwagen stemmen wollte, und vor dessen trauriger Leibes– und Seelenbeschaffenheit meine Kunst zu Schanden wurde.

Meine Kunst! Du lieber Himmel, wenn es hoch kam und ich „es durchhielt“, wie Herr Kunze sagte, und das Glück (an das Otto nicht glaubte) mich weiter so begünstigte – ich durfte ja hoffen, daß sie ausreichen mochte, diesen „Tropfen am Eimer“ zu trocknen!

Aber der Eimer, der übervolle, nach allen Seiten überquellende menschlichen Leids und Elends, wie ich es da vor mir sah in dieser Riesenstadt – das bescheiden–schöne Dichterbild erdrückend, verschlingend und an Stelle desselben einen unermeßlichen schwarzen Schlund öffnend, aus dem es ohne Unterlaß seine Schlammmassen wälzte – was bedeutete da das bischen individuelle Liebe, der Gran gesunden Menschenverstandes und opferfrendigen Muthes eines einzelnen, in seiner Vereinzelung hilflosen Menschen!

Das waren keine schwarzen Phantasien eines pessimistischen weltentfremdeten Poeten. Ich hatte den Rath des wackeren Professors von Hunnins befolgt und jetzt, da der Lärm des Lebenskampfes mich zu wild umtoste, meine Leier an die Wand gehängt; aber in dieser Welt, welche sich dadurch die abendlichen Straßen wälzte, war ich längst kein Fremdling mehr. Und ich kannte sie nicht bloß vom Vorübergehen auf der Gasse. In wie vielen dieser dunklen Häuserkasernen war ich, der Handwerker zu Handwerkern, Bestellungen machend, Forderungen eintreibend, oder ausrichtend, was sonst das Geschäft erheischte, die steilen Treppeu hinaus in die Mansarden, hinab in die dumpfigen Keller gestiegen und hatte in den engen Räumen so viel Hunger und Kummer, physische Gebrechlichkeit und moralische Häßlichkeit gesehen und beobachtet, daß man, wäre es räumlich meßbar gewesen, eben so viele weiteste fürstliche Säle damit hätte füllen können!

So war denn das gemeinsame Mühen der vielen wackeren und uneigennützigen Männer, Väter, Berather, Lenker und Helfer der Gemeinde, waren alle jene großartigen Einrichtungen und Veranstaltungen doch auch nur wieder ein Schöpfen in das Danaidenfaß des über die Menschheit verhängten Elends?

Von wem verhängt?

„Von dem brutalen Egoismus der Wenigen, welche sich durch jedes Mittel in den Besitz der Macht zu setzen wußten, um ohne Scham und Reue diese Macht gegen die Vielen auszubeuten,“ sagten die Socialdemokraten. „Von der Dummheit und außerdem von dem vielen Trinken,“ sagte Karl Brinkmann.

„Denn sehen Sie, lieber Herr Lorenz,“ sagte Karl Brinkmann; „wie das ist, ist es gewesen und wird es bleiben, so lange die Welt steht; einmal ein bischen besser, das andere Mal ein bischen schlimmer, was denn just keinen großen Unterschied macht. Gute und schlechte Menschen hat es immer gegeben und wird’s immer geben. Und, wenn man’s bei Licht besieht, sind der schlechten gar nicht so viele, und die meisten sind auch gar nicht so sehr schlecht. Aber die Dummen, lieber Herr Lorenz, die werden nicht alle, sagen sie hier in Berlin, wo sie es wissen müssen, denn sie haben sie hier gleich scheffelweise. Und sehen Sie, lieber Herr Lorenz, das ist das wahre Unglück, gegen das kein Kraut gewachsen ist, wie Ihr Bruder Otto zu sagen pflegt. Was so ein richtig dummer Mensch ist, aus dem wird sein Lebtag kein kluger, Sie mögen mit ihm anstellen, was Sie wollen. Ich weiß das von den Pferden; da ist es just so. Und wenn die Pferde sich aufs Trinken legen könnten, wie die Menschen, wär’ es noch juster so. Das können die Gott sei Dank nicht; die saufen ihr Lebtag nur Wasser. Aber die Menschen, die können es, Gott sei’s geklagt. Und nun trinkt so ein dummer Mensch sich sein bischen Verstand und Gesundheit vollends weg, und dann wundert er sich, wie er ins Unglück gekommen ist. Darum, lieber Herr Lorenz, sehen Sie, ist es auch mit der Socialdemokratie nichts: denn das werden sie nie zu Stande bringen, daß von zehn Menschen, die geboren werden, nicht mindestens die Hälfte dumm ist; es mögen auch wohl zwei Drittel sein – nach meiner Taxe.

Und dann wird die kluge Hälfte oder das kluge Drittel immer die dumme Hälfte oder die dummen zwei Drittel im Sack haben, und ich wüßte auch nicht, was dagegen zu sagen wäre. Denn regieren können sich die Dummen gerad so wenig wie die Kinder, die auch aufmucken, weil sie natürlich Alles besser wissen, und wenn sie dann in der Patsche sitzen, sind sie doch froh, wenn ein Erwachsener kommt und sie herausholt. Und was die Socialdemokraten immer sagen, daß es die paar Klugen so viel besser hätten wie die Dummen – das heißt, sie sprechen ja nie von Klugen und von Dummen, und von Fleißigen und Faulen auch nicht, sondern immer nur von Reichen und Armen, als ob der Reichthum den Leuten vom Himmel gefallen wäre und dumme Reiche lange reich blieben – so wäre dagegen auch nicht viel zu sagen.

Denn die guten Pferde sind den Hafer werth, und ich habe Rackers genug vor dem Wagen gehabt, für die Häcksel noch viel zu gut war. Aber es ist nicht einmal an dem. Denn, was so ein kluger Mensch ist, der muß gleich immer für zehn und zwanzig und auch Wohl für noch mehr arbeiten und sorgen und sich abrackern, just so, wie ein fleißiges Pferd, wenn der Kutscher nicht aufpaßt, den Wagen ganz allein zieht, und das faule troddelt nebenbei. Und, steckt der Karren fest, schindet sich das fleißige ab und reißt ihn ’raus, und das faule thut nur so, wenn’s auch noch so viele Schläge kriegt. Glauben Sie mir, lieber Herr Lorenz, das Elend kommt von der Dummheit und würde davon kommen, wenn auch das verdammte Trinken nicht wäre. Mit dem zusammen kommt’s aber erst recht davon.“

2.

Der brave Karl Brinkmann hatte sich sein System, wie andere Philosophen auch, aus den Erfahrungen gezogen, die er im Leben gemacht, den Beobachtungen, die sich ihm früher oder später aufgedrängt. Ich konnte das am besten beurtheilen, der ich ihn von Kindesbeinen an kannte und wußte, welcher Art seine Erfahrungen gewesen waren bis auf den heutigen Tag, und die Richtigkeit seiner Beobachtungen leider vollauf bestätigen mußte.

Ich hatte den Hopps die Gutthaten nicht vergessen, die sie einst an dem armen Tischlerjungen gethan, und das Herz schnürte sich mir zusammen, mußte ich denken, in welchen breiten behaglichen Verhältnissen diese Menschen einst gelebt hatten – und nun sah, was aus all der Herrlichkeit geworden war: noch das bare Elend nicht, aber etwas, das unheimlich nahe daran grenzte und dazu werden mußte, wenn H. H. seiner unseligen Leidenschaft nicht Herr wurde. Und das wagte ich nicht zu hoffen von Einem, der sich niemals hatte beherrschen können, dem das Unglück den geringen moralischen Halt vollends gebrochen und der, wie er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 472. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_472.jpg&oldid=- (Version vom 30.1.2020)