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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sie hatte sich wieder in meinen Arm gehängt, den sie vorhin entrüstet hatte fahren lassen, und nun kam der Plan, den sie sich überlegt haben wollte. Sie habe immer geglaubt, daß sie Talent für die Bühne habe – ich habe ihr das früher auch gesagt, wenn wir zusammen gespielt und Märchen und Charaden aufgeführt und dargestellt hätten. Sie sei jetzt oft im Theater gewesen mit Herrn von Vogtriz; er habe ebenfalls gemeint: was die da auf der Bühne könnten, das könnte sie zehnmal. Und ich müsse ihr dabei helfen: ich habe gewiß noch gute Freunde und Freundinnen unter den Schauspielern. Und dann wolle sie eine große Künstlerin werden, wie die Wolter, die sie neulich erst gesehen. Und einen Grafen oder Prinzen heirathen, wie so viele Künstlerinnen schon gethan hätten – nicht Herrn von Vogtriz – nein, einen Andern – ihm zur Strafe, um sich an ihm zu rächen. Er würde außer sich sein; denn, wenn er auch heute noch so schlecht gegen sie gewesen sei, sie wisse ja doch, daß er sie liebe.

Das arme Kind! Der tolle Plan war also nur der Umweg zu dem einzig ersehnten Ziele, und das sie doch für ein erreichbares hielt – trotz alledem. Ich durfte sie nicht ermuthigen, aber ebenso wenig die Arme, Tiefgekränkte, Verzweifelnde der letzten Hoffnung berauben. So sagte ich denn, im Falle sie wirklich auf ihrem Vorhaben bestände, meinen Beistand zu, dessen Möglichkeit davon abhänge, daß ich meinen früheren Kollegen, einen Herrn Lamarque, der jetzt, so viel ich wisse, am X-Theater spiele, für sie interessire. Sie war bei der Nennung des Namens wie elektrisirt. Wenn Herr Lamarque mein Freund sei, gebe es keine Schwierigkeit mehr. Sie habe ihn oft gesehen; sie sei entzückt von ihm, wie alle Welt. Jedermann halte ihn für einen der besten Schauspieler der Gegenwart, für den das X-Theater viel zu klein sei; ob ich denn gar keine Zeitungen lese?

Ich entschuldigte mich: ich läse jetzt grundsätzlich keine Theaterberichte. Gleichviel: sie dürfe auf mich zählen unter der Bedingung, daß sie die Zwischenzeit benutze, um über Alles, wovon wir heute Abend gesprochen, reiflicher, leidenschaftsloser, als sie bis jetzt im Stande gewesen, nachzudenken und mir in einer ruhigeren Stunde, zu der ich mich für sie frei zu machen versuchen würde, den Beweis davon zu liefern.

Wir hatten uns zuletzt immer in unmittelbarer Nähe ihrer elterlichen Wohnung bewegt, an deren Thür ich jetzt von ihr Abschied nahm. Sie verschwand, nachdem sie mich auf dem Flur noch schnell in die Arme geschlossen und mir einen heißen Kuß auf die Lippen gedrückt, im Dunkel der nach oben führenden steilen Treppe; ich trat wieder auf die Gasse, meinen Weg nach der socialdemokratischen Versammlung fortzusetzen, aus dem mich die wunderliche Begegnung nicht eigentlich gebracht hatte.

4.

Nicht aus dem Wege und wahrlich auch nicht aus der Stimmung, die man wohl zu solchen Versammlungen mitbringen muß. War dies, was ich da eben durchlebt, nicht auch wieder ein Stück des socialen Jammers, von dem die Welt, wie sie ging und stand, erfüllt war? Ein von Haus aus edelgesinnter, großherziger Mensch, wie Ulrich Vogtriz, der ein Mädchen, das er – ich zweifelte nicht daran – liebte, dennoch zu heirathen rundweg verweigerte, weil er es mit seinen Begriffen von Standesehre nicht vereinigen konnte. Ein Mädchen wiederum, so schön, so begehrenswerth und auch, trotz ihrer – wollen sie denn nicht Alle gefallen? – ein gutes Mädchen, das dem Moloch dieser Standesehre geopfert wird. Um der Noth ihrer Familie weiter geopfert, zur Ehe gezwungen zu werden mit einem, wie ich jetzt fürchten mußte, sehr wenig achtbaren und ganz gewiß gründlich unliebenswürdigen Manne. Oder, daran verzweifelnd, sich ehrbar durchs Leben zu bringen, in eine Laufbahn gedrängt wurde, in der ihrer, die ein wirkliches Talent nicht einzusetzen hatte, im Ausnahmefalle ein glänzendes und in dem sehr wahrscheinlichen das bare nackte Elend harrte. Elend also, was der schaudernde Blick sah, sobald man von dieser Welt der scheinbaren Ordnung und Sitte ein Stückchen nur der Oberfläche abstreifte, auf welcher das Auge der Zufriedenen, Satten haften bleibt, die nicht weiter sehen wollen oder können. Nein, guter Brinkmann, so einfach, wie du meinst, steht es mit der Rechnung des Lebens denn doch nicht. Oder aber, wenn die Dummheit alles Uebels Wurzel ist, so wäre erst zu untersuchen, wie tief man am Baume der Menschheit bis zu dieser faulen Wurzel hinabdringen kann; ob sie am Ende nicht doch noch verbesserungs– und heilungsfähig ist, auf daß der Baum reichere, labendere Früchte bringe, nicht so viel solche wie die, von denen ich mein junges Leben hindurch schon so manche gekostet – und jetzt eben wieder – Früchte, aschetrocken und todesbitter.

Aschetrocken und todesbitter – sie hatten Alle den Geschmack auf der Zunge, die Hunderte, von denen ich das große Lokal, in welches ich mich mit noch ein paar anderen Nachzüglern mühsam gedrängt, bis auf den letzten, möglicherweise benutzbaren Platz erfüllt fand. Sie standen auf Stühlen und Tischen; dennoch gelang es mir, einige Schritte weit vorzudringen, wo ich denn freilich in fürchterlicher Enge bleiben mußte und es nur meiner Länge verdankte, wenn ich über die Köpfe der Anderen von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Rednerbühne am andern Ende des Saales hatte, welche selbstverständlich abermals ein Tisch war.

Mein Nachbar theilte mir flüsternd mit, daß bereits zwei Redner, die er mir nannte, zur Tagesordnung: „Die Ursachen der heutigen Geschäftskrise“ gesprochen – ausgezeichnet! An dem, der jetzt das Wort habe, „scheine nicht viel zu sein“. Die Meinung mochte von der Mehrzahl der Anwesenden getheilt werden; es war eine Unruhe in der Versammlung, welche von Minute zu Minute wuchs und die ohnehin nicht starke Stimme des Redners oft völlig übertönte. Was ich dann zwischendurch verstand, wollte mir freilich so uneben nicht erscheinen. Der Mann suchte klar zu stellen, daß der Gründungsschwindel mit seinen Folgen allerdings die erste und vorzüglichste Veranlassung der momentanen Handelskalamität und der verhängnißvollen Stockungen auf dem Arbeitsmarkte sei; daß aber die Arbeiter selbst durch die unaufhörlichen Strikes, für welche sie den Moment schlecht wählten und welche sie in Folge dessen mit dem nöthigen Nachdruck nicht durchführen könnten, das Uebel nur vergrößerten. Die Strikes seien eine furchtbare Waffe in den Händen des Arbeiters, aber man müsse sie auch zu handhaben wissen; sonst kehre sich die Schneide gegen Den, der sie führe, und erleichtere dem schon überstarken Gegner den Sieg.

Der Redner, ein schon älterer Mann, dem es offenbar heiliger Ernst um die Sache war, für die er eintrat, und der sich durch die Zwischenrufe der Gegner und die im Saale wachsende Unruhe nicht aus der Fassung bringen ließ, wollte seine Sätze durch das Beispiel einer Strikebewegung erhärten, welche gerade jetzt in Brünn eingeleitet war und in unseren Kreisen viel von sich reden machte. Aber schon vermochte man nur noch Einzelnes, bald gar nichts mehr zu verstehen vor dem ohrenbetäubenden Lärme, der durch den Saal toste. Man stampfte mit den Füßen, man gestikulirte mit den geballten Fäusten; man pfiff, johlte, schrie, brüllte aus Leibeskräften. Vergebens daß der Vorsitzende eine Glocke schwang, die keinen Klöpfel zu haben schien; vergebens auch, daß der anwesende Polizeilieutenant neben den Vorsitzenden trat und vermuthlich die Versammlung mit Auflösung bedrohte, falls sie fortfahre, sich auf diese Weise selbst zwecklos zu machen.

Ich hatte das widerliche Schauspiel längst satt und war im Begriffe mich zu entfernen, als ganz plötzlich der ungeheure Lärm einer tiefen Stille wich, der alsbald ein donnerndes, nicht enden wollendes Bravo folgte.

Und dann wieder tiefe Stille über all den Hunderten, welche, die Hälse reckend, sich auf den Fußspitzen hoben, die Gesichter, aus denen die Augen glühten, nach der Rednerbühne gewandt.

Und nun eine Stimme, deren Heller, metallener Klang den weiten Raum bis in die fernste Ecke füllte und mir das Herz erbeben machte.

Konnte er es sein? Adalbert?

Als ob dies nicht der Ort, wo ich ihn wiederfinden mußte, ihn hätte suchen müssen, wenn ich ihn wiederfinden wollte! Er war, wie er jetzt zur Einleitung mit wenigen knappen Worten mittheilte, mehrere Wochen auf Reisen gewesen – im Interesse selbstverständlich der Sache, für die zu leben es sich überhaupt des Lebens verlohne und für die er auch heute zu zeugen gekommen sei.

Einige Enthusiasten schrieen hier Bravo, wurden aber sofort von allen Seiten zur Ruhe gezischt; man wollte sich kein Wort des Mannes entgehen lassen.

Nun trat er in sein Thema ein: den Nachweis, daß es thöricht sei, irgend eine besondere Erscheinung unseres socialen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_490.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2018)