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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

die fürchterliche Stunde kommen, wo er sich mit dem Weisen von Ferney sagen müßte: es ist Alles vergebens, und du verläßt die Welt so dumm und so schlecht, wie du sie gefunden? Wahrlich, wie ich ihn kenne, diese Stunde, sollte sie ihm kommen, es würde seine letzte sein, denn er würde sie zu seiner letzten machen.

Und wie unn so meine Gedanken bei ihm weilten, dem ich die höchsten Weihestunden meiner Jünglingsjahre verdankte, erfaßte mich jählings eine unendliche Sehnsucht nach ihm. Ich konnte nicht begreifen, wie ich es über mich gebracht hatte, seinen Namen hundertmal im Adreßbuche zu lesen und ihn nicht einmal aufzusuchen; wie ich vorhin mich begnügt hatte, seine geistvollen Züge mir aus der Ferne durch den Dämmer der schwülen tabaksraucherfüllten Luft des weiten Raumes mühsam zusammen zu suchen, nicht seiner am Ausgang des Saales geharrt hatte, ihm die Hand zu drücken. Die schlanke kühle Hand! Er mochte sie sich ja nie drücken lassen, auch nicht von mir, den er doch in seiner Weise geliebt hatte! Nein, es war besser so. Folgen konnte ich ihm auf seinem steilen Pfade doch nicht; so mochten unsere Wege getrennt bleiben, wie ich wünschte und hoffte, daß sich der meine und der Schlagododro’s nie kreuzen möchten. War ich kein kühner Steiger, wie der eine meiner alten Freunde – ich wollte gern des adligen Muthes entbehren, mit dem sich der andere in die Tiefe stürzte. Ich wollte meinen ebenen Weg, wie ich ihn mir vorgezeichnet, so weiter gehen, ohne Tausende vielleicht glücklich, aber auch ohne eine Menschenseele so unglücklich zu machen, wie ich die arme Christine vor ein paar Stunden gesehen hatte.

Vor ein paar Stunden? Ja, war denn das Alles im kurzen Laufe eines einzigen Abends vor sich gegangen? hatten ein Paar Stunden genügt, die Vergangenheit, welche ich für immer begraben wähnte, zur Gegenwart zu machen, die mit gieriger Hand in mein Leben greifen wollte? Dem Dienst, den Christine von mir heischte, durfte ich mich ja keinesfalls entziehen; mit einem dritten der sorgsam gemiedenen Freunde, mit Lamarque, mußte ich also sicher wieder anknüpfen, wenn sie sich nicht zu der Heirath mit dem alten Holzhändler entschloß. Und wer konnte wissen, wohin dieser eine erste Schritt aus dem engen Kreis meines kleinbürgerlichen Lebens mich führen würde?

Ich stand vor diesem Gedanken, der für mich etwas seltsam Erschreckendes hatte, jäh still – zum ersten Male in dem Laufschritt, mit welchem ich aus dem Versammlungslokal fürbaß geeilt war – um auch sofort die tiefste seelische und physische Erschöpfung zu empfinden. Seit einem frühen Mittag hatte ich keinen Bissen gegessen, keinen Trunk gethan – und es ging stark auf elf. Die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich befand mich freilich bereits in der Nähe unserer Wohnung; aber dort würde Alles längst zu Bett sein, und ich hatte gesagt, daß man mir das Abendbrot nicht aufzuheben brauche. Dicht vor mir hing eine rothe Laterne über einem jener Keller, in welchen „der gemeine Mann“ zu verkehren pflegt. Ich stieg die paar Stufen hinab und fand in einem zweiten stilleren Raum hinter dem noch sehr belebten „Billardzimmer“ in einer Ecke ein Plätzchen, wohin mir der verschlafene Kellnerjunge Butterbrot und ein Glas Bier brachte.

Ich setzte das zur Hälfte geleerte mit einem tiefen Athemzuge hin.

„Wohl bekomm’s!“ sagte eine Stimme hinter mir.

Ich wandte mich, nur um mich zu überzeugen, daß mich meine überreizten Nerven geäfft hatten, und fuhr von meinem Sitze auf.

„Sie irren sich nicht,“ sagte der Mann; „ich bin es wirklich.

Glaub’s gern, daß Sie den Weißfisch, wie er da vor Ihnen steht, schwer erkennen. Habe ich doch selbst Mühe gehabt, meinen gnädigen Herrn aus dem Kostüme herauszuschälen.“

Er lächelte; aber in seinen hellen Augen flackerte es unruhig. Er war offenbar in Zweifel, wie ich diese Begegnung nehmen würde, und wirklich war meine erste Regung, ihn anzuherrschen, daß er sich seines Weges trollen möge. Dann hatte eine zweite Regung die erste verdrängt: der Mann da vor mir, dessen früher sorgsam glatt rasirtes oder mit einem Künstlerschnurrbart kokett ausgestattetes Gesicht ein struppiger Vollbart bis fast in die Augen umstarrte; dessen langer, sonst so wohlgepflegter, wohlgelleideter Leib in einem bis zur Schäbigkeit dürftigen Anzuge stak – er war zweifellos arm, vielleicht in Noth – ich konnte es nicht übers Herz bringen, ihn von mir zu jagen.

Die hellen Augen hatten mir das Alles längst vom Gesichte abgelesen.

„Darf ich?“ sagte er, die Lehne eines zweiten Stuhles, der an dem Tischchen stand, berührend.

Ich nickte; er nahm Platz. Die Augen waren jetzt auf mein Butterbrot gerichtet, und mit einem Blick, den ich früher vielleicht nicht verstanden hätte.

„Nehmen Sie!“ sagte ich.

Er griff hastig zu und murmelte, wie zur Entschuldigung seiner Gier: „Ich habe heute noch nichts gegessen.“

„Geniren Sie sich nicht,“ sagte ich; „ich lasse mehr kommen.“

Der Kellnerjunge brachte das Bestellte. Er aß und trank, ohne aufzublicken, ohne, ein Wort zu sprechen, und mit jedem Bissen, den er hinunterschlang, jedem Schluck, den er that, schwand etwas von der Feindseligkeit, die ich anfangs gegen ihn empfunden.

Beruht doch die Heiligkeit der Gastfreundschaft zum guten Theil auf dem Lustgefühl des Wohlthuns, das selbst die grimme Kraft des Hasses wenigstens zur Zeit bändigt. Und dann, hatte ich auch volle Ursache, den Mann zu hassen, der schon meiner Mutter und später mir so viel des Leides bereitet – wäre mir ohne ihn so manche Stunde geworden, an die ich doch nur mit schmerzlichem Sehnen zurückdenken konnte?

Er hatte seinen Hunger gestillt, that noch einen kurzen Zug aus dem Glase, das ich ihm bereits zum zweiten Male hatte füllen lassen, und sagte, das lange Schweigen brechend: „Ich will es nur gestehen: ich stand da“ –er wies mit dem Daumen über die Schulter nach der Stadt zurück „während der ganzen Zeit in Ihrer Nähe und hätte Sie wohl ansprechen können; aber ich wagte es nicht. Bin Ihnen auch schon auf dem langen Wege gefolgt, bis ich Sie hier hineingehen sah und mir den Muth faßte. Verzeihen Sie meine Dreistigkeit! Aber wenn man Jemand, den man so –“

Er fuhr sich über die Augen und murmelte: „Gleichviel! Sie würden es mir ja doch nicht glauben.

Ich wollte auch nur sagen: wenn man Jemand, den man sich in Amerika verschollen, vielleicht todt dachte, nun leibhaftig vor sich sieht – noch dazu so – und es hätte Alles so anders, so ganz anders kommen können!“

„Lassen wir das,“ sagte ich mit Nachdruck. „Es hat im Gegentheil so kommen müssen, und ich bin zufrieden, daß es so gekommen ist – für mich. Daß ich Sie freilich dabei um Ihre Hoffnungen und Aussichten und, wie ich annehmen muß, ins Elend gebracht habe, thut mir leid. Ich meinte, ein Mann von solchen Gaben würde sich immer zu helfeu wissen.“

„Ja wohl,“ erwiderte er, „da helfe sich Einer, der sich zwischen zwei Stühle setzt! Mit dem Kammerherrn hatte ich es gründlich verschüttet; er hat mich nicht einmal angenommen, als ich es wagte, mich wieder bei ihm zu melden, nachdem der Mohr bei dem – nun, Sie wissen ja, bei wem – seinen Dienst gethan hatte und zum Teufel gehen konnte. Als ob es meine Schuld gewesen Wäre, daß er nicht die Kunst verstanden hatte, Sie zu halten; meine Schuld, daß Sie sich auf und davon machten; meine Schuld, daß all meine Mühe, meine – ich darf wohl sagen verzweifelten Anstrengungen, Ihrer wieder habhaft zu werden, Sie zurück zu bringen – lebend oder todt, lautete der Auftrag – vergeblich waren!“

„Zum Beispiel in Hamburg,“ schaltete ich, wider Willen lächelnd, ein.

„Ah!“ sagte er gedehnt. „Sie haben mich gesehen! Nun verstehe ich, weßhalb Sie nicht wieder in den Gasthof zurückgekehrt sind und lieber Ihre Sachen im Stich gelassen haben, um gleich an Bord gehen zu können. Das erfuhr ich freilich erst am folgenden Abend. Da war es zu spät, und die Jagd war aus.

Das Schiff – ,Cebe’ hieß es – war längst auf offener See, und bis nach Chile reichte selbst seine Macht nicht.“

„Und doch hätten Sie mich noch vier, ja acht Wochen später in Hamburg finden können,“ sagte ich. „Ueberhaupt bin ich gar nicht fortgekommen, weder damals, noch später.“

Er blickte mich mißtrauisch an und sagte: „Sie spielen mit mir und haben es doch gar nicht nöthig.

Lieber wollte ich mir diese Hand und den Kopf abhacken lassen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 494. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_494.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2018)