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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 30.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Michael stand vor dem Manne, den er nur ein einziges Mal vor zehn Jahren gesehen hatte und dessen Bild doch unauslöschlich in seiner Erinnerung stand, denn es verband sich mit einer der herbsten Erfahrungen seines Lebens.

Graf Michael Steinrück hatte jetzt bereits die Siebzig überschritten, aber er war eine jener Naturen, an die sich das Alter nicht zu wagen scheint, und die Jahre, die sonst unerbittlich den Verfall zu bringen pflegen, fanden ihn noch aufrecht und ungebeugt, wie einst in seiner vollen Manneskraft. Haar und Bart waren weiß geworden, das war aber auch die einzige Veränderung des letzten Jahrzehntes. Die stolzen, energischen Züge hatten sich kaum etwas tiefer gefurcht, die Augen blickten noch scharf und feurig, und es war auch noch die alte gebietende Haltung, die in jeder Bewegung die Gewohnheit des Befehlens verrieth. Diese stählerne und durch körperliche und geistige Anstrengungen aller Art gehärtete Natur bewahrte sich noch im Greisenalter eine Lebenskraft, um welche sie ein Jüngling hätte beneiden können.

Der General musterte scharf und prüfend den jungen Officier, aber die Prüfung fiel offenbar günstig aus. Er liebte bei der militärischen Jugend diese männlich kraftvolle Erscheinung, diese ernste Ruhe, die auch auf geistige Disciplin deutete, und er eröffnete das Gespräch mit mehr Wohlwollen, als sonst in seiner Art lag.

„Oberst Reval hat Sie mir warm empfohlen, Lieutenant Rodenberg, und ich gebe viel auf sein Urtheil. Sie sind sein Adjutant gewesen?“

„Zu Befehl, Excellenz.“

Steinrück wurde aufmerksam, es lag für ihn etwas Bekanntes in dieser Stimme, als habe er sie schon einmal gehört, und doch war es ihm eine ganz fremde Erscheinung. Er begann von militärischen Angelegenheiten zu sprechen und stellte dabei häufige Fragen nach den verschiedensten Richtungen hin, aber Michael bestand das scharfe Examen, das in Gesprächsform über ihn verhängt wurde, zur vollen Zufriedenheit. Seine Antworten klangen allerdings einsilbig, nicht ein Wort mehr, als unbedingt nothwendig erschien, aber sie waren knapp, klar und unbedingt zutreffend, ganz im Geschmack des Generals, der sich immer mehr überzeugte, daß der Oberst ihm nicht zu viel gesagt hatte. Graf Steinrück war in der That gefürchtet wegen seiner eisernen Strenge, aber er war ebenso gerecht, wo ihm

Luitpold, Prinzregent von Bayern.
Nach der Büste von Prof. Chr. Roth in München.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 517. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_517.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2022)