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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

wo „in allen Wipfeln kaum ein Hauch“ zu spüren ist. Es ist jene Mittagsstimmung, auf welche so recht die Worte zu passen scheinen: „Keine Luft von keiner Seite, Todesstille fürchterlich.“

Es wäre so natürlich, so selbstverständlich, jetzt das zarte Kind im kühlen, gut gelüfteten Zimmer, dessen Licht gedämpft ist, zu lassen, hier den Fußboden zuweilen kühl zu sprengen und so dem Kinde eine behagliche Existenz zu sichern. Es wäre so naheliegend, es im Hochsommer von neun Uhr früh bis sechs Uhr Abends, wenn es nicht ganz schattigen, kühlen Aufenthalt im Freien haben kann, lieber der Sonne nicht auszusetzen. Daß diese alte Erfahrung aber oft nicht beachtet wird, kann man täglich beobachten. Die Kinder werden oft zu unzweckmäßigen Zeiten und an nicht genügend geschützte Orte gebracht und dort der „schlimmen Sonne“ ausgesetzt. Es ist Mittag, und zu dieser Zeit, wo

„Kein Laut ergeht, kein Hauch, kein Lied
Giebt noch vom Leben Kunde,
Als ob der Erdengeist verschied
Um diese dürre Stunde“,

soll das Kind ungestraft im Freien verweilen? Oft mag es der Fall sein, aber – ach – nur zu leicht kehrt es heim mit hochgeröthetem Gesicht, Erbrechen, Unruhe, Schlaflosigkeit, beschleunigtem, vollem Puls, höherer Temperatur, fliegendem Athem. Oft gesellen sich bei größeren Kindern Schwindel, Ohrensausen, Kopfschmerz, bei kleineren, unter Verengerung der Pupillen, Krämpfe hinzu, und sehr rasch, manchmal in wenig Stunden, ist dieses schwere Reizstadium des „Sonnenstichs“ in das Stadium der Lähmung, der Depression übergegangen – kaum noch einer Wiederherstellung zugängig. Wenn irgend ein Leiden an Geibel’s Wort gemahnt: „Der schnellste Reiter ist der Tod,“ so ist es in ihrem Verlauf die Ueberfüllung des noch weichen, wasserreichen Kindergehirns durch Blut in Folge der großen Hitze, oft nicht einmal bei direkter Einwirkung heißer Sonnenstrahlen auf das unbedeckte Haupt. Das plötzliche Auftreten, der besonders bei jüngeren Kindern erschreckend schnelle Verlauf, der rasche Uebergang der Reizerscheinungen in die der Gehirnlähmung geben diesem Krankheitsbilde etwas Furchtbares.

Aber fast noch verhängnißvoller ist es, daß die ersten Symptome nicht immer richtig gedeutet, daß oft nicht schnell genug eine zweckmäßige ärztliche Behandlung eingeleitet wird. Jede Viertelstunde ist hier kostbar, jedes Zögern, jeder Mangel an Energie gefährlich. Nicht lange kann das von Flüssigkeit umgebene Hirn dem Drucke widerstehen, den der plötzliche Blutandrang und der rasche Austritt von Lymphe auf seine leicht zerstörbaren Gewebe ausüben. Wenn jetzt nicht rasch durch sofortiges kühles Lagern im etwas dunklen Zimmer, Kälte (Wasser- oder Eisumschläge) auf den Kopf, Blutegel hinter die Ohren, Klystiere von Essigwasser, unter Umständen durch kalte Uebergießungen über Hinterkopf und Nacken unter sachverständiger Leitung das Gehirn entlastet wird, so entsteht, durch Druck auf die Hirnrinde, Blutmangel derselben und Lähmung. Das Kind starrt mit weitgeöffneten, immer weniger bei Berührung zuckenden Augenlidern bewußtlos nach oben, ist völlig theilnahmlos, verfällt in einen schlafsüchtigen Zustand und geht meist unter Lähmung aller Lebenserscheinungen ziemlich rasch zu Grunde. Natürlich würde in diesem Stadium des Verfalles das eben geschilderte Verfahren nicht mehr zweckmäßig sein. Erfolg können höchstens im Beginne dieser Zustände noch warme Bäder mit kalten Uebergießungen gewähren. Von Medikamenten ist, da das Kind auch in der Regel alsdann nicht mehr schluckt, kamn noch etwas zu erwarten. Reizmittel können den übermäßigen Druck in der Schädelhöhle nicht verringern, höchstens das erlöschende Leben kurz aufflackern lassen. – „Die schlimme Sonne!“ seufzen dann gramerfüllt die Menschen.

Wie viele Tausende kleinster Kinder die Sonnenhitze des Juli und August durch Magendarmkatarrhe dahinrafft, lehren die Kurven der Säuglings-Sterblichkeit, welche in diesen Monaten besonders bei der Bevölkerung der Großstädte ihren Höhepunkt erreichen. Kommen auch hier noch Störungen der Ernährung in Frage, so ist die Grundursache dieser die jüngste Generation decimirenden Leiden die Hitze, welche die Zersetzung der Nahrung und die Störung der Verdauung begünstigt. Wieder ist es „die schlimme Sonne“, welcher man die Schuld giebt, ohne zu bedenken, daß Vorsicht in der Wahl und Bereitung der Nahrung, kühles Verhalten des Säuglings so manches junge Leben erhalten könnte.

Die Sonne aber strahlt und glüht vom wolkenlosen Himmel majestätisch weiter; denn sie hat große Aufgaben zu erfüllen, das Getreide und die Früchte zu reifen, damit es der Menschheit nicht an Nahrung mangle. Nichtachtend den Unverstand einzelner Menschen, gleichgültig gegen Lob und Tadel, nach ewigen Gesetzen vor unsern Augen auf- und niedertauchend, Licht und Wärme spendend zum vernünftigen Gebrauche wandelt sie ruhig weiter.

Dem hellstrahlenden Himmelslicht sind die Interessen des Einzelnen Nichts gegen die des Weltalls, und doch ist das kleinste Kind in ihm geborgen zur rechten Stunde und in rechter Weise. Wird es vor der Ueberfülle seiner Spenden, zumal der direkten Einwirkung der Wärmestrahlen, beschützt, wie es ein verständiger Gärtner auch mit seinen Pflänzchen hält, so stört Nichts des Kindleins Gedeihen, und sie bleiben gar gute Freunde: Sonne und Kind. F.     


Kleine Ursachen – große Wirkungen.

Bühnenerinnerung von Marie Knauff.

Kein Mensch ist wohl, was den guten Erfolg seiner Thätigkeit und seiner Mühen anbelangt, so abhängig von den winzigsten Zufälligkeiten wie der arme Schauspieler. Der Mime, welchem ja bekanntlich die Nachwelt keine Kränze flicht, muß den Erfolg des Augenblicks haben; die Stimmung des Publikums, die Illusionen der Zuhörer während der kurzen Spanne eines Abends bedingen seinen Ruhm, und wehe, wenn nur das kleinste Sandkorn oder das unbedeutendste Insektchen sich gegen ihn verschworen hat! Ein kaum sichtbares Eintagsmückchen, welches z. B. dem Wallenstein-Darsteller während des großen Monologes: „Es giebt im Menschenleben Augenblicke“ in die Nase fliegt und den unglücklichen Heldenvater zu einem kräftigen Niesen reizt gerade inmitten des Verses: „Und Roß und Reiter sah ich niemals wieder!“ – verursacht doch gewiß mehr Schaden, als zwanzig der blutdürstigsten Recensenten zuwege bringen könnten.

Ich will die kleinen Neckereien eines boshaften Geschickes, welche mich mit infernalischer Schadenfreude ganz aus dem Koncepte und um allen Erfolg brachten, als ich an der Weimarer Hofbühne zum ersten Male in der „Räuber“-Vorstellung die Amalie spielte, treu nach dem Leben schildern, zugleich als Beweisführung, daß unser Ruhm von recht jämmerlichen Dingen abhängt!

Meine erste Scene mit Franz-Lehfeld ging eine Zeit lang recht gut; das Publikum blieb in der gehobensten Stimmung; was Wunder! Lehfeld war damals noch auf der Höhe seiner Kunst! Wir waren bereits glücklich durch manchen Bombast des Dialogs bis zum Scblusse des ersten Aktes gelangt, und mit den Worten: „Du hast mir eine kostbare Stunde gestohlen – sie werde Dir an Deinem Leben abgezogen!“ hatte ich Franz von der Scene gejagt, den darauf folgenden Schlußmonolog beginnend: „Karl ein Bettler, sagt er?! Bettler sind jetzt Könige, und Könige – Bettler! In den Staub mit Dir, prangendes Geschmeide!“ Damit wollte ich mich, in edelmüthiger Entsagung, meines Halsschmuckes entäußern und denselben zur Erde schleudern, wie vorgeschrieben war. Aber – was ist das? Das Schloß der einreihigen langen Perlenkette, welches sonst jeder leisen Berührung nachgab und sich beqnem öffnen ließ, war plötzlich ganz rebellisch geworden – die Kette wankte und wich nicht vom Halse! „In den Staub mit Dir!“ rief ich noch eimnal mit erhöhtem Pathos und zerrte krampfhaft an der Perlenschnnr. Umsonst; das Schloß sprang nicht auf, die Kette gab nicht nach; es schien, als wollte sie meinen Hals für alle Ewigkeiten umschlingen!

Durch die Reihen des Publikums ging bereits eine sehr bedenkliche Unruhe, das für den Schauspieler so beängstigende Geräusch von Räuspern – etlichen Ah’s und Oh’s – unterdrücktem Kichern – Vorboten einer nahenden „Heiterkeit“. Was beginnen? ich war rathlos!

Solche Niederlagen des Schauspielers spotten jeder Beschreibung! Mein Blut stockte und halb weinend, mit bebenden Lippen und schlotternden Knieen, mit derselben Kraftäußernng, als gelte es einen Backzahn von acht Wurzeln aus dem eigenen Oberkiefer zu reißen, riß ich – riß ich an dem Geschmeide so lange mit Berserkerwuth, bis endlich – endlich das Schloß aufsprang!

Leider hakte sich nun die eine Hälfte desselben mit dem Schnapper ganz fest oben in die Halskrause des Spitzenkleides, und die Perlenschnur baumelte jetzt wieder der Länge nach vom Halse herunter, auch in dieser pendelnden Weise nicht die mindeste Absicht verrathend, meiner Aufforderung: „In den Staub!“ nachzugeben.

Das war zu viel! Ein Taubengemüth hätte nun der gerechte Zorn übermannt! „Biegen oder brechen“ – rief es in mir. „Hinab!“ knirschte ich heimlich – ein letzter wüthender Ruck an der Kette – dann ritsch! ratsch! – und indem ich jetzt die ganze Halskrause des Kleides mit losriß, hatte ich zwar endlich das elende Geschmeide, aber auch – ein an dem Schlosse desselben fest eingeklammertes Stück weißer Spitze, mindestens eine Elle lang, frei in der Hand. „In den Staub!“ Endlich! Gott sei Dank!

Ich schleuderte Kette und Spitze – mit imposanter Gebärde – weit von mir! Sei es jedoch, daß die fürchterliche Aufregung, in welche ich ob des Ungeheuerlichen gerathen war, mich die Distanz nicht recht abmessen ließ, sei es, daß Kobolde des Freitags spukten – genug! ich warf Beides, Kette und Spitze, anstatt in die Mitte der Bühne, einige Schritte weiter – Himmel! welch ein unglücklicher Wurf! – – gerade auf den Souffleurkasten! –

Da lag es nun, das verwünschte Geschmeide, in voller Beleuchtung des Gaslichtes, ganz oben auf der kleinen Behausung unseres unsichtbaren Schutzgeistes. Die losgerissene Spitze der Halskrause hing an beiden Seiten des eisernen Kastens recht malerisch herunter, und dazwischen schlängelte sich die Perlenschnur wie eine kleine giftige weiße Viper. Ich überschaute im Augenblicke Alles; ich fühlte die ganze Schwere meines Mißgeschickes – der Aktschluß war verloren! Nicht allein, daß ich in den Logen Gelächter vernahm, ich sah noch, wie alle Blicke nur neugierig dem corpus delicti auf dem Souffleurkasten zugewendet waren, und mit ganz erbärmlicher Miene schloß ich kläglichen Tones Monolog und Akt mit den vorgeschriebenen Worten: „Karl – Karl! so – bin ich Deiner werth!“ – Armer Karl, du hattest keine Ursache, heute Abend stolz auf deine Amalie zu sein! Der Vorhang senkte sich lautlos, aber das Publikum war in der heitersten Stimmung.

Als der General-Intendant Dingelstedt in dem darauffolgenden Zwischenakte auf der Bühne erschien und mich mit niedergeschlagener Miene in der ersten Koulisse stehen sah, schlug er eine helle Lache auf und rief mir in seiner sarkastischen Weise zu: „Bravo, liebes Kind! Sie haben mit dieser Rolle – einen sehr guten Wurf gemacht!“

Der Abend war – Dank der von mir erwähnten Unfallsteufelchen – einer der schlimmsten Freitage meiner Bühnenlaufbahn; beim Nachhausegehen klangen mir fortwährend die Worte Karl Moor’s in den Ohren; „Darum Räuber und Mörder?!“



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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_523.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2022)