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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 31.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Sankt Michael war eine der höchstgelegenen Ortschaften des Gebirges. Das kleine, stille Alpendorf wäre ganz abgeschieden gewesen, wenn es nicht als Wallfahrtsort eine gewisse Bedeutung gehabt hätte. Die einzelnen Gehöfte lagen zerstreut auf den Matten und am Bergesrand, in der Mitte die Dorfkirche und das Pfarrhaus: Alles klein, schmucklos und dürftig; nur die eigentliche Wallfahrtskirche, die eine Strecke vom Dorfe entfernt, auf freier Höhe stand, hatte ein stattliches Ansehen. Es war eine Stiftung der Grafen von Steinrück, die an Stelle der uralten Sankt Michael’s Kapelle, die einst hier gestanden, das nun auch schon altersgraue Gotteshaus erbaut und ihm seitdem oftmals Schenkungen und Vermächtnisse zugewendet hatten bis in die neueste Zeit. Galt doch Sankt Michael als Schutzpatron des Geschlechtes, wie er dessen Namenspatron war. Der Ahnherr hatte so geheißen, und seitdem hatte der Name von Geschlecht zu Geschlecht sich fortgeerbt. Selbst die protestantische Linie des Hauses, die längst die heimische Stammburg verlassen hatte und nach Norddeutschland ausgewandert war, hielt an dieser Tradition fest, wenn sie ihr auch keine religiöse Bedeutung mehr beilegte, sondern nur noch eine historische. Auch das jetzige Haupt des Hauses war ein Graf Michael, und Sohn und Enkel waren nach ihm getauft, wenn auch ihr Rufname anders lautete. – Das Innere der Wallfahrtskirche bot nicht viel Bemerkenswerthes, den gewöhnlichen Schmuck von Bildern und buntbemalten Statuen der Heiligen, in oft sehr mangelhafter Ausführung. Nur der Hochaltar machte eine Ausnahme davon, er war im reichsten, kunstvollen Schnitzwerk ausgeführt, und die Engelsgestalten zu beiden Seiten der Stufen, die mit ausgebreiteten Flügeln und betend erhobenen Händen den heiligen Ort zu hüten schienen, gehörten zu den besten Werken der Holzbildnerei. Es war ein Geschenk der gräflich Steinrück’schen Familie, ebenso wie die drei gothischen Fenster in der Altarnische, deren kostbare Glasmalereien eine glühende Farbenpracht zeigten. Dagegen entstammte das Altarbild, ein ziemlich umfangreiches Gemälde, der naiven Auffassung einer längstvergangenen Zeit. Es war dunkel geworden vor Alter, hier und da beschädigt, aber doch noch deutlich erkennbar in seinen Einzelheiten. Sankt Michael, in langem blauen Gewande und wallendem rothen Mantel, den Heiligenschein über dem Haupte, war nur durch ein kurzes Panzerhemd als der streitbare Engel gekennzeichnet, sah aber sonst nicht sehr kriegerisch aus. Das Flammenschwert in der Rechten, die Wage in der Linken, thronte er auf einer Wolke, zu seinen Füßen krümmte sich der Satan, ein


Schwarzwälderin.0 Nach einem Oelgemälde von C. Bantzer.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_537.jpg&oldid=- (Version vom 8.9.2022)