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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

gehört doch mein Geschlecht zu den allerältesten. Es stammt aus dem zehnten Jahrhundert, das ist historisch beglaubigt, aber die Ueberlieferung reicht noch viel weiter zurück. In Norddeutschland giebt es wohl kaum eine so alte Familie?“

Er machte sich augenscheinlich bereit, nun auch den Stammbaum seines Gastes zu prüfen, aber dieser, der das Unheil kommen sah, parirte geschickt und fuhr mit einer Frage dazwischen.

„Darf ich fragen, wen dies Bild darstellt? Es fiel mir schon beim Eintritte auf,“ sagte er, auf ein Gemälde deutend, das ihm gerade gegenüber an der Wand hing. Es war das lebensgroße Brustbild eines Mannes von etwa vierzig Jahren, mit dunklem Haar, lebhaften dunklen Augen und edlen regelmäßigen Zügen, in denen allerdings keine besondere Intelligenz lag. Die Kleidung, die eine Uniform zu sein schien, wurde größtentheils durch einen Mantel verhüllt. Das Portrait war jedenfalls neueren Datums. Der Schloßherr richtete die Augen gleichfalls dorthin, er vergaß auf einmal Stammbaum und Jahrhunderte und fragte angelegentlich:

„Gefällt Ihnen das Bild?“

„Außerordentlich! Welch ein schöner Kopf! und auch vortrefflich gemalt. Jedenfalls auch ein Eberstein?“

Der alte Herr sah halb geschmeichelt, halb gekränkt aus, als er langsam entgegnete:

„Ja, ein Eberstein! Sie erkennen ihn also nicht wieder?“

Hans stutzte, er warf wieder einen Blick auf das Bild und dann auf die zusammengesunkene Gestalt mit den trüben Augen und den welken Zügen.

„Es kann doch nicht – sollte es etwa Ihr eigenes Portrait sein, Herr Baron?“

„Das war es einst – und es soll vor dreißig Jahren sehr ähnlich gewesen sein. Ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie keinen Zug mehr darin wiederfinden, bin ich doch nur noch eine Ruine, wie meine Ebersburg!“

Die Worte klangen so tief schmerzlich, daß Hans sofort einlenkte und sich bemühte, den alten Mann zu trösten.

„Doch, ich erkenne die Züge deutlich wieder,“ versicherte er. „Das Bild hatte ja schon im ersten Augenblick etwas Bekanntes für mich, aber ich rieth auf einen Ihrer Söhne.“

„Ich habe keine Söhne,“ versetzte Eberstein wehmüthig. „Mein Geschlecht geht mit mir zu Grabe, denn meine erste Ehe ist kinderlos gewesen, und die zweite hat mir nur eine Tochter geschenkt. Ich begreife nicht, wo Gerlinde bleibt, ich werde sie wohl herbeirufen müssen.“ Er erhob sich mühsam und schritt nach dem Nebenzimmer, dessen Thür geschlossen war.

„Gerlinde von Eberstein – brr!“ rief Hans aus. „Das klingt ganz nach Söller und Burgverließ. Jedenfalls ein mittelalterliches Burgfräulein, denn da der Herr Papa in den Siebzigen steht, so muß die Tochter mindestens Vierzig zählen; nun, der Dame kann man sich allenfalls im Pelzrock vorstellen.“

Er blickte mit sehr mäßiger Neugierde nach der Thür, fuhr aber plötzlich wie elektrisirt in die Höhe, denn das, was jetzt auf der Schwelle erschien, entsprach keineswegs seinen Voraussetzungen.

Es war die zarte Gestalt eines noch sehr jungen Mädchens im schlichten, grauen Hauskleide, das dunkle Haar einfach zurückgestrichen und in Flechten am Hinterkopfe befestigt. Das noch ganz kindliche Gesichtchen erschien ein wenig bleich, war aber, wenn auch nicht eigentlich schön, doch von unsagbarer Lieblichkeit. Von den Augen sah man nichts als die tiefgesenkten, dunklen Wimpern. Der Freiherr mußte erst im späteren Alter zu der zweiten Ehe geschritten sein, denn sein Töchterlein zählte höchstens sechzehn Jahre.

„Hans Freiherr von Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein – meine Tochter Gerlinde!“ stellte der Schloßherr mit aller Feierlichkeit vor. Hans war so überrascht, daß er zwei Verbeugungen nach einander machte, welche die junge Dame ihrerseits mit einer unglaublich steifen Bewegung erwiderte, die zwischen Knix und Verneignng die Mitte hielt. Dann nahm sie, immer noch mit niedergeschlagenen Augen, ihren Platz am Tische ein, wo das kalte Abendessen bereits aufgetragen war, und die sehr bescheidene Mahlzeit nahm ihren Anfang.

Der alte Freiherr war sehr redselig und sprach unaufhörlich mit dem Gast, der durch die Bewunderung seines Bildes sein ganzes Herz gewonnen hatte; um so schweigsamer zeigte sich Fräulein Gerlinde. Sie besorgte still und aufmerksam all die kleinen Geschäfte der Hausfrau, hielt sich dabei aber steif wie ein Holzbild und setzte allen Unterhaltungsversuchen Hans Wehlau’s ein hartnäckiges Stillschweigen entgegen; der Vater nahm dann regelmäßig statt ihrer das Wort, und dabei blieb ihr Gesicht so unbeweglich, als höre sie gar nicht, was gesprochen wurde.

„Das arme Kind scheint taubstumm zu sein,“ dachte der junge Mann mitleidig. „Schade um das liebliche Gesichtchen! Wenn sie wenigstens nur einmal die Augen aufschlagen wollte!“

Er machte noch einen letzten Versuch, indem er sich direkt an sie wandte mit der Frage, ob das gnädige Fräulein schon lange auf der Ebersburg wohne, und ob es im Winter hier nicht sehr einsam sei. Gerlinde blieb auch jetzt stumm, und ihr Vater gab die Antwort.

„Wir leben jahraus, jahrein hier, und meine Tochter ist seit frühester Jugend an diese Einsamkeit gewöhnt. Ich habe ihr allerdings erlaubt, in der nächsten Woche auf einige Tage nach Steinrück zu gehen auf dringenden Wunsch der Gräfin, deren Pathenkind sie ist. Sie kennen doch die Grafen von Steinrück?“

„Gewiß, ich habe die Ehre.“

„Ein altes Geschlecht, aber volle zweihundert Jahre jünger als das meinige!“ sagte der Freiherr mit höchster Genugthuung. „Der Ahnherr der Steinrück wird erst in den Kreuzzügen genannt, und leider haben sie auch einen Flecken auf ihrem Stammbaum, eine Mißheirath der schlimmsten Art, die freilich erst aus der neuesten Zeit stammt. Sie geschah vor etwa dreißig Jahren, bis dahin war die Familie makellos.“

„Seit den Kreuzzügen! Und im neunzehnten Jahrhundert muß ihnen ein solches Unglück begegnen!“ rief Hans mit einer Entrüstung, die ihm ein beifälliges Kopfnicken seines Wirthes eintrug.

„Allerdings ein Unglück! Sie haben vollkommen Recht, Sie scheinen überhaupt ein sehr lebhaft entwickeltes Standesgefühl zu besitzen, ich liebe das außerordentlich. Ja, Graf Michael hat den Schlag überwunden, ich hätte es nicht gekonnt; mich hätte er zu Boden geworfen, denn mein Stammbaum ist rein bis auf diese Stunde, ganz rein!“

Damit begann er eine sehr weitläufige, historische Erörterung über besagten Stammbaum, in der er mit den Jahrhunderten nur so um sich warf und die um volle zweihundert Jahre jüngeren Grafen von Steinrück behandelte, als ob sie Wickelkinder seien. Hans achtete gar nicht darauf, er zerbrach sich noch immer den Kopf darüber, ob Fräulein Gerlinde von Eberstein wirklich taubstumm sei oder nicht, und das beschäftigte ihn so sehr, daß der Erzähler seine Zerstreutheit bemerkte und etwas empfindlich fragte, ob er auch zuhöre.

„Natürlich, ich bewundere den ganz reinen Stammbaum,“ versicherte der junge Mann. „Also die Eberstein-Ortenau –“

„Führen diesen Doppelnamen seit dem vierzehnten Jahrhundert,“ ergänzte der Freiherr. „Gerlinde, mein Kind, erzähle unserem Gaste, wie das geschah.“

Fräulein Gerlinde faltete die Hände auf dem Tische, sie hob auch jetzt das Auge nicht empor, und ihr Gesicht blieb unbeweglich, aber sie begann plötzlich zum Entsetzen des Gastes zu reden oder vielmehr zu plappern, in der Weise eines Kindes, das eine eingelernte Lektion aufsagt:

„Im Jahre dreizehnhundertundsiebzig war eine Fehde ausgebrochen zwischen Kunrad von Eberstein und Balduin von Ortenau, dieweil die Hand der Hildegund von Ortenau dem Ritter Kunrad von Eberstein versagt worden war, bei welcher Fehde sowohl die Ebersburg als die Veste Ortenau verschiedene Male berannt wurden, bis im Jahre dreizehnhundertundeinundsiebzig Ritter Balduin in die Gefangenschaft des Ebersteiners gerieth und in das Burgverließ geworfen wurde, allwo er endlich in die Vermählung Hildegund’s mit Kunrad willigte, welche Vermählung im Jahre dreizehnhundertundzweiundsiebzig mit großer Pracht gefeiert wurde, was zur Folge hatte, daß bei dem Tode des Ritters Balduin im Jahre dreizehnhnndertundsechsundachtzig die Veste Ortenau und deren sämmtliche Liegenschaften an die Herren von Eberstein kamen, die seitdem den Namen von Eberstein-Ortenau führen.“

„O – das ist erstaunlich!“ sagte Hans, der wirklich starr vor Staunen über diese Leistung der vermeintlich Taubstummen war. Er begriff nicht, wie sie beim Sprechen den Athem behielt, den er schon beim Zuhören verlor.

„Ja, meine Gerlinde weiß Bescheid in der Geschichte unseres Hauses,“ sagte der Freiherr triumphirend. „Sie hat sie sogar

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_575.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)