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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Kaum hatte der Kellermeister die Zelle verlassen, als die mächtige Gestalt des Tobias Stusche auf einmal alle gebieterische und imposante Würde einbüßte, sein ganzes Wesen einen sehr unterthänigen und dienstbereiten Ausdruck annahm, so schwer es ihm wurde, seinen Stiernacken zu beugen und den ungelenken Gliedern die Geschmeidigkeit zu geben, deren ein unterwürfiger Sinn bedarf, wenn er dem Höherstehenden huldigen will.

War es ein vornehmer Kirchenfürst, der den wackeren Tobias in diese unbequeme Lage versetzt hatte? Mindestens nahm der Fremde diese Huldigungen so gelassen hin, als ob sie ihm zukämen – und doch wird die hohe kirchliche Würde niemals der Jugend zu Theil. Grau und verwittert muß sein, was zum Felsen Petri gehört.

Der französische Abt war einer jener Männer, über welche ein flüchtiger Blick leicht achtlos hinwegstreifen kann, aber nähere Betrachtung fühlte sich gefesselt und angezogen. Und wenn man anfangs nicht recht wußte, worin dieser Zauber beruhte – man blieb nicht lange darüber im Unklaren. Es war die Macht dieses großen sonnenhaften Auges, der sich Niemand entziehen konnte: es sprach daraus ein überlegener, beherrschender Geist. Bald war es ein feuriger Adlerblick, welcher die Herzen zündend traf; bald hatte dies Auge einen sanften, tiefen, schwärmerischen Ausdruck, der überaus sympathisch wirkte.

Es war das Auge des Genius! Mag wer da will an ein Genie mit nichtssagenden grauen Augen oder funkelnden Katzenaugen glauben – ohne den tiefen Blick, der in die Seelen hineinleuchtet, giebt es kein Genie.

„Ich danke Ihm,“ sagte der Gast, indem er mit dem Wirthe anstieß; „Er hat mir einen großen Dienst geleistet, und das soll Ihm unvergessen bleiben.“

„Stets Eurer Majestät getreuer Diener,“ versetzte der Abt mit einem etwas ungeschickten Bückling, „ich leere dies Glas auf Euer Wohl, Sire!“

Friedrich blieb eine Zeitlang in Gedanken versunken.

„Habe zu sehr diese Panduren mißachtet ... ganz unerwartet kamen sie hervorgeschwärmt aus den Glätzer Bergen – ein wahrer Heuschreckenschwarm. Ich hatte mich zu weit entfernt von den Schulenburger Dragonern. Diese geriethen in einen Hinterhalt, setzten sich tapfer zur Wehr … ich hörte das Musketenfeuer … da tauchten zur Rechten und zur Linken von mir an den Waldrändern die Panduren auf. Es galt Eile … ich war mit meinem Adjutanten allein … wir jagten auf Waldwegen thalwärts … überall hinter den schneebelasteten Bäumen sahen wir die glitzernden Musketen. Daß Er mir so rasch und ohne Bedenken auf Anfrage und Wunsch die Pforten des Klosters öffnen ließ, insgeheim, ohne daß außer dem Bruder Pförtner irgend Jemand etwas davon erfuhr: das war meine Rettung; denn in den Gehöften der Hörigen ringsum tummeln sich die Rothhosen, man hört ja die Musketenschüsse selbst hier im Kloster, und bei Gott, Meister Tobias, es war Hilfe in der Noth! Ob Er damit ein gutes Werk gethan hat, weiß ich nicht, aber die Welt hätte ein anderes Aussehen erhalten, wenn ein Musketenschuß jener Räuberbande mir den Garaus gemacht hätte!“

„Wir sind noch immer nicht sicher,“ versetzte der Abt, „daß sie ins Kloster dringen. Der Bruder Pförtner plaudert zwar nicht; ihm hab’ ich’s auf die Seele gebunden – und sonst weiß Niemand im Kloster von der Anwesenheit Eurer Majestät. Mein Vorgänger im Amt war von Eurer Statur – so konnte ich rasch aus der Nachbarzelle, wo der Schrank mit den Klostergewändern steht, das seinige entnehmen und Eurer Majestät übergeben. Hier sind Eure Majestät in sicherer Obhut und außer Gefahr, entdeckt zu werden; doch ich kann nicht dafür einstehen, daß uns die Panduren noch einen Besuch machen; ich werde Erkundigungen einziehen lassen, Tag für Tag, wo sie umherschwärmen, wo sie sich hingewendet.“

„Tag für Tag,“ rief Friedrich aus, „o nein, der König von Preußen darf nicht auf Tage verloren gehen. Sie harren meiner Befehle … vor Glogau, vor Neiße … ich erwarte Nachrichten von Winterfeld aus Petersburg – vom Grafen von Rothenburg aus Paris: hier oder dort kann im Spiele der Diplomatie eine Karte aufschlagen zu meinen Gunsten! Und ich hier im Kloster – ich habe nicht Zeit und Muße, Uhren zu stellen wie Kaiser Karl im Kloster von St. Just: ich hab’s gewagt, den Zeiger zu stellen auf der Uhr der Geschichte, und muß angstvoll lauschen auf ihren Schlag!“

Ungeduldig sprang der König auf, des weiten Gewandes ungewohnt warf er anstreifend das Weinglas um, und der feurige Tokaier wurde verschüttet.

„Ich hoffe, die Reiterscharen werden sich bis morgen zerstreuen,“ versetzte der Abt; „jedenfalls sollen mir die Laienbrüder draußen genaue Auskunft erstatten.“

„Dank, Meister Tobias! Wie sorglos kann Er seine Herde lenken mit dem frommen Stäbe. O neid’ Er nicht eines Königs Scepter. Allzuschwer oft ist seine Wucht, und auch die starke Hand beginnt zu zittern und wird kraftlos, doch nur auf Augenblicke! Auch Könige sind Menschen, aber der Staat, dem wir dienen mit Leib und Seele, duldet kein langes Ermatten; er setzt uns rasch wieder in den Sattel zum Sieges- oder Todesritte!“

Es schien dem Abt, als wolle der König sich zur Ruhe begeben; er nahm die Kerze zur Hand und geleitete ihn ehrfurchtsvoll in die Zelle gegenüber, die für den hohen Gast bestimmt und eingerichtet war. Mit tiefer Verbeugung wünschte er ihm eine ruhige Nacht.

Doch den König quälte die innere Unruhe, sorgenvolle Gedanken waren in ihm wachgerufen worden; er ging in seiner Zelle hin und her.

„Ein braver Mann, der Abt Tobias,“ sagte er sich, „was wagt er nicht Alles für den fremden, den ketzerischen König … und wie kann ich’s ihm lohnen? Und warum wagt er dies? Bin ich seines Gleichen nicht ein Gräuel? Was er gethan, er that’s aus Menschlichkeit; er sah mich in Gefahr und wollte mich erretten. Aller Ordensregeln spottet ein redlich Gefühl, das nur sich selbst gehorchen will.“

Der Vollmond stand hell am Himmel – das Fenster von Friedrich’s Zelle ging auf den Klosterhof. Da war Alles so still und friedlich … die winterlichen Skelette der Kastanien und Ulmen waren mit Schnee bedeckt … die Pfeiler der offenen Halle, die sich im Viereck hinzog um das im Sommer so freundliche, jetzt so öde Plätzchen Erde, warfen ihre Schatten auf die Schneefläche … ein leichtes, weißes Gewölk stob vom Wipfelgeäst einer Kastanie herunter … eine Krähe scharrte dort den Schnee und flog dann krächzend in den kalten Winterhimmel empor.

So freudlos das Alles war: einen Augenblick überkam’s den König, als könne er glücklich sein in solcher von der Welt abgeschlossenen Einsamkeit. Er würde hier nicht fromm in den Tag hineinleben wie die Andern … er würde denken und dichten ungestört. Nicht um die Kronen Europas brauchte er sich zu kümmern, nicht um die tugendstolzen oder verworfenen Frauen, die offen oder geheim das Scepter führten, nicht um die Heere seiner Feinde … kein Kriegsplan, kein Schlachtplan brauchte ihn zu beschäftigen … nie würde ihn der Jammer quälen, daß das kühn Entworfene scheitert an der Ungunst des Glückes und an thörichter Ausführung. Wieder kam ihm der spanische Karl in den Sinn … doch hatte dieser nicht ein reiches Leben hinter sich, als er an die Pforten des Klosters klopfte? Er war mächtig und groß gewesen, und der Glanz vieler Kronen hatte seine Stirn geschmückt. Wie durfte sich ein junger Fürst dem lebensmüden Weltbeherrscher vergleichen! Es galt ja erst Ruhm und Macht zu erringen, ein schönes Land im Sturm zu erobern und dann siegreich zu behaupten, der Welt zu zeigen, was das gute Preußenschwert vermag und welch hohen Flugs der Aar der Hohenzollern fähig sei.

Alles war noch auf die Zukunft gestellt … auf ein rastloses Streben. Hier fühlte er sich eingeengt, gefangen. Es duldete ihn nicht länger in der Zelle, er schritt die langen Korridore hindurch; sie waren taghell durch den Vollmond erleuchtet. Er gelangte wieder in die Klosterkirche … durch das Hauptschiff ging er dahin, dem Hochaltar zu; er stieg die Stufen empor zum goldfunkelnden Krucifix, verloren in Gedanken, die fern abschweiften von den heiligen Räumen, die er durchwandelte. Die bunten Glasmalereien der hohen Kirchenfenster strömten ein träumerisches Licht aus im Mondenschein; aber nicht auf die Heiligen und Märtyrer, deren Gestalten in so lichten Regenbogenfarben schimmerten, blickte der junge Fürst … in dem phantastisch bunten Schein, der sein Haupt umwob, zogen glänzende Zukunftsträume durch seine Seele. Da, am Hochaltar stehend, besann er sich plötzlich darauf, wo er sich befand … er mußte lächeln, als er sein weißes Mönchskleid betrachtete; was würde er dazu sagen, sein Freund, der größte Mann des Jahrhunderts?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 581. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_581.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)