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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Der Vorwurf war ein Pfeil, gegen den ich wehrlos war, da ich den einzigen Beweggrund, mit welchem ich meine Handlungsweise vor mir selbst entschuldigte, auch nicht einmal andeuten durfte. Und dann, warum um Alles in der Welt hatte sie dann auf meinem Kommen bestanden, wenn nicht um des von mir angedeuteten Grundes willen? So fing ich denn in meiner Bestürzung an, etwas von Pflichten zu murmeln, die man wider Willen auf sich nehmen müsse, und brach jäh ab, da ich merkte, daß ich eben das sagte, was ich nicht sagen wollte. Ich wünschte mich tausend Meilen weit von dieser Stelle.

Wieder kamen ein paar verspätete Gäste, und glücklicherweise waren es diesmal ein paar ältere Damen, die Ellinor nicht so schnell abfertigen konnte, wie vorhin die jungen Herren. Auch waren wir bereits im vordersten Zimmer, und ich sah den Kammerherrn oder doch wenigstens einen Rollstuhl, der in das sehr tiefe Fenster geschoben war und in welchem Jemand kauerte, der ja kein Anderer als der Kammerherr sein konnte. Er war von ein paar Herren umgeben, die, als ich mich nun rasch näherte, zurücktraten, jedenfalls dazu von dem Kammerherrn selbst, der mich hatte kommen sehen, aufgefordert. Er winkte mir mit der weißen Hand entgegen; es schien dies die einzige Bewegung, über die er noch mit einiger Freiheit verfügte. Ich hatte diese Hand ergriffen, indem ich zugleich auf dem Sessel Platz nahm, welcher neben dem Rollstuhl stand. Der Kranke mußte in meinen Mienen gelesen haben: „Ich bin wirklich noch nicht mein Gespenst,“ sagte er mit einem Anflug seines alten satirischen Lächelns.

Es bedurfte fast dieser Versicherung: man konnte nicht leicht etwas Gespenstischeres sehen als diese in fürchterlicher Weise verkrümmte, zur Mumie zusammengeschrumpfte Gestalt mit dem nun unverhältnißmäßig großen Schädel, von welchem langes, völlig Weißes Haar über ein kleines, verzerrtes Gesicht fiel, das einem Todten gehört haben möchte, wäre das Auge nicht gewesen. Nur eines – von dem zweiten, wie ich nachher bemerkte, mußte er, wollte er es gebrauchen, erst mit dem Zeigefinger das Lid heben –und in diesem einen schwarzen Auge hatte sich Alles, was von Leben in der Mumie war, koncentrirt – Flackerleben, das jetzt verlöschen zu wollen schien, um im nächsten Moment mit unheimlichem Glanze dämonisch aufzuglühen. Die immer schon gebrochene Stimme, die aber damals noch so ergreifend zu singen und so wunderbar vorzutragen vermochte, war zu einem heiseren Flüstern geworden, welches zu verstehen mir anfänglich um so schwerer wurde, als die seltsame Scene, welche ich eben mit Ellinor gehabt hatte, noch in mir nachzitterte.

„Ja, ja,“ flüsterte die Mumie, „sehen Sie mich nur dreist an, mein junger Freund! Das wird schließlich aus einem, wenn man zu dumm oder zu feig ist, dem elenden Dasein bei Zeiten ein Ende zu machen, nämlich: so lange man unter den anderen schönen sieben Sachen die Scham noch nicht verloren hat. Hernach ist es zu spät, und man vegetirt so schamlos weiter, wobei gar kein Spaß ist, außer daß man die Leute durch sein Dasein ärgert. Das hat man noch vor dem Hund voraus, sonst nichts – ein Strohhalm, aber man klammert sich daran. Sind wir unbelauscht, liebes Kind?“

Er versuchte jetzt, das rechte Augenlid zu heben; ich beeilte mich, ihn zu versichern, daß Niemand sonst ihn hören könne, was gewiß der Fall war, da ich, der ich dicht an ihn herangebeugt saß, noch immer einige Mühe hatte, seine leisen, durch ein trockenes Hüsteln vielfach unterbrochenen Worte zusammenzubringen. Und hüstelnd fuhr er fort:

„So geschmacklos bin ich nämlich noch nicht, Sie zu diesem tête-á-têtetête-á-tête ist gut: wir haben ja die Köpfe so dicht zusammen, – wenn ich ein schönes Mädchen wäre, Sie könnten mir einen Kuß geben, ohne daß es Jemand merkte. Seien Sie ruhig! ich meine es gut mit Ihnen – Sie werden es gleich sehen. – Also: ich habe Sie nicht zu mir gebeten, um Ihnen vorzulamentiren wie ein altes Weib, obgleich das Gewerbe, das ich bei Ihnen anzubringen habe, allerdings Altweibersache ist: Kuppelei, junger Freund, Kuppelei! Ach, die liebeu naiven erschrockenen Augen! Was gäbe ich, könnte ich noch einmal solche Augen machen! Aber nun ernsthaft! Und hören Sie genau zu, was ich Ihnen sage! Und unterbrechen Sie mich nicht, wenn auch, was ich Ihnen zu sagen habe, höchst wunderlich und theilweise sogar passabel toll ist. Ich weiß, wer Sie sind! Still! Ich meine nicht das, was hier so ziemlich Jeder weiß und Keiner mehr besagen kann, als ich, der ich so gern Ihr Vater gewesen wäre. Ihre Frau Mutter dachte anders darüber; ich mußte froh sein, wenn ich ihr einmal die schöne Hand küssen durfte. Sie hat mir das bitterste Leid meines Lebens bereitet; ich will mich dafür an ihr rächen, indem ich ihr zu dem verhelfe, wovon sie mir schreibt, daß es der letzte und höchste Wunsch in ihrem Leben sei. Still! Sie haben es mir versprochen! Ich trage den Brief bei mir; er soll mit mir begraben werden; es ist meine Ehrenrettung. So schreibt man an keinen verschmähten Liebhaber, den man nicht trotz alledem für einen ehrlichen Kerl hält. Sie schreibt aber – nicht aus Amerika, sondern bereits aus London – erstens Alles, was ich wissen mußte, um au courant zu sein – Alles, verstehen Sie! auch, daß ein Brief von ihr an Sie unerbrochen zurückgegangen ist und sie in London getroffen hat. Sie wendet sich nun an mich, von dem sie allerdings nicht zu wissen scheint, in welcher miserablen Verfassung ich bin, und verlangt meinen Rath, meinen Beistand. Was sie thun soll, um zu einer Verständigung, einer Aussöhnung mit Ihnen zu gelangen, nachdem Sie ihr Entgegenkommen so schroff zurückgewiesen haben? Ich wußte, daß ich Sie heute hier treffen würde. So konnte ich ihr telegraphiren, sie möge vorläufig einmal das Resultat dieser unserer Unterredung abwarten. Still! ich bin noch nicht zu Ende. Ich muß Ihnen erst noch sagen, wie ich darüber denke. Ich denke, daß die Welt ein einziges großes Narrenhaus ist, in das aus Versehen zu ihrem Unglück auch einige wenige Vernünftige gesperrt sind, zu welchen ich Sie zu zählen mich beehre. Die Narren dokumentieren sich dadurch, daß sie an jeden beliebigen Zopf von Vorurtheil, er sei so dick und so dumm wie immer, gierig beißen; die Vernünftigen durch das Gegentheil, indem sie muthig ihrer Einsicht folgen, ohne sich durch das Geschrei der Menge beirren zu lassen. Nun ist eines der allerdummsten Vorurtheile, daß sie die Menschen für die Sünden ihrer Eltern verantwortlich machen, als ob nicht Jeder an seinen eigenen genug zu tragen hätte! Mit diesem Satze haben Sie die Richtschnur für Ihr künftiges Verhalten. Nehmen Sie jeden Vortheil wahr, den Ihnen die Situation Ihrer Eltern bietet, und lachen Sie Jedem ins Gesicht, der Miene macht, Ihnen das zu verargen. Bisher haben Sie nicht so gehandelt; aber das macht mich an Ihnen nicht irre. Auch die Vernunft will, wie jedes gute Ding, Weile, bis sie zum Durchbruch kommt; die Hauptsache ist, daß sie zum Durchbruch kommt, bevor das Spiel verloren ist. Ihres ist noch nicht verloren – im Gegentheil: es liegt für Sie so günstig wie möglich. Sie lieben Ellinor. Still! unterbrechen Sie mich nicht! Ich wußte es schon damals, und Sie würden sie jetzt abermals nicht so miserabel behandeln, wenn Sie nicht noch immer abgöttische Liebe zu ihr hegten. Ergo: heirathen Sie Ellinor, da das Vorurtheil der Ehe unter den Menschen auch besteht und so bald nicht auszurotten sein dürfte. Hindernisse giebt es nicht. Aus Andeutungen Ihrer Mutter glaube ich entnehmen zu dürfen, daß eine Aussöhnung, respektive ein passendes Arrangement zwischen ihr und dem Herzog im Werk ist. Kommt es zu Stande – bon! Kommt es nicht zu Stande – auch gut: die Millionen Ihrer Mutter schnellen alle legitime Nücken und Velleitäten, wie sie hier in diesen Räumen – ich gebe es zu – massenhaft im Schwange sind, hoch in die Luft. Und jetzt bitte, sagen Sie dem Kerl von Diener, der da herumlungert, er solle mich zu meiner alten Freundin kutschiren, deren Consens zu erwirken ich übrigens auf mich nehme; und dann gehen Sie hin und sagen Sie Ihrer jungen Freundin mit einem schönen Gruß von mir, daß ich Ihnen den Kopf zurecht gesetzt habe, und daß Sie sie zum Rasendwerden lieben und in vier Wochen heirathen wollen.“

Ein Husten, welcher schon lange gedroht und die Rede des Alten zuletzt fast unverständlich gemacht hatte, brach herein, und wenn der Anfall auch schnell vorüberging, blieb mir keine Zeit zu fragen, worauf mir jetzt Alles ankam: ob denn Ellinor von unserm verwandtschaftlichen Verhältniß unterrichtet sei? Bereits hatte der herbeigewinkte Dieuer den Rollstuhl in Bewegung gesetzt; ich mußte zurückbleiben, da nun auch ein Herr, welcher nur auf die Beendigung der langen Audienz gewartet zu haben schien, jetzt schnell an mich herantrat und sich mir als Präsident von Vogtriz zu erkennen gab. Er habe schon so viel von mir gehört, und daß ich bei seinem Bruder Egbert in so hohem und, wie er nicht zweifle, gerechtem Ansehen stehe. Er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_623.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2020)