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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Und Sie glauben wirklich an das Millennium?“ sagte Adalbert.

Er hatte, während der Oberst mit Pahlen diesen Diskurs führte, schweigsam seine Cigarette rauchend, nach seiner Weise etwas vornübergebeugt in seinem Stuhl gesessen, nur bisweilen für einen Moment den Blick auf den gerade Redenden heftend, um dann wieder mit gesenkten Augen vor sich hin zu brüten.

„Gewiß glaube ich daran,“ erwiderte der Graf, „wenn Sie mich nicht, wie ich annehme, auf das Wort festnageln, vielmehr darunter ein Stadium verstehen wollen, in welches die Menschheit treten wird, nicht um in demselben zu verharren – das würde eine langweilige Sache werden – sondern um sich aus demselben zu abermaligem neuen Fortschritt aufzuraffen. Mein Gott, das glauben Sie doch auch! Ich wüßte sonst wahrlich nicht, weßhalb Sie eine Kraft und Energie, die wir bewundern, ohne es Ihnen gleich thun zu können, an eine Sache wenden, welche Sie für hoffnungs- und aussichtslos halten. Aber Sie werden mich auslachen, daß ich Ihre Frage ernsthaft nehme.“

„Sie sehen, ich lache nicht,“ sagte Adalbert.

Ich blickte ihn an und erschrak, denn ich glaubte schier in dasselbe Gesicht zu blicken, das ich vor wenigen Tagen aus dem Todtenbette gesehen: still und kalt und groß wie eines Gottes Angesicht, der das Schicksal einer Welt in seinem Rath erwogen hat und darüber zu einem fürchterlichen Entschluß gekommen ist.

Auch Pahlen und der Oberst waren augenscheinlich von dem Anblick betroffen. Der Oberst faßte sich am schnellsten und sagte in seiner liebevollen Weise: „Daß Sie über etwas, es sei was es sei, jetzt und auf lange Zeit hinaus lachen sollten, lieber Werin, wird sicher Keiner von uns erwarten.“

„Sie sind gütig wie immer,“ erwiderte Adalbert; „aber für diesmal kann ich Ihre Güte nicht annehmen. Ich habe in der That diese Tage sehr gegen meine Gewohnheit wiederholt gelacht. Wissen Sie worüber? Ueber die echt menschliche Thorheit, geduldig im Parterre sitzen zu bleiben, nachdem das Stück auf der Bühne angefangen hat, uns langweilig und schal zu werden.“

Eine so direkte Andeutung auf den Tod seiner Mutter machte uns aufs Neue betreten.

„Sie haben das Leben nie leicht genommen, lieber Werin,“ sagte der Oberst; „wie wäre es möglich, daß Sie es jetzt anders als schwer nähmen? Aber eine Kraft wie die Ihre gleicht der des Magneten, welche wächst mit dem Gewicht der Lasten, die man an ihn hängt. Ueberdies – ,der Morgen hat Alles Wohl besser gemacht' singt der Dichter.“

„Wer an ein Morgen glaubte!“ erwiderte Adalbert mit melancholischem Lächeln. „Ich habe daran geglaubt – o ja, in der Zeit, als ich Dir – erinnerst Du Dich, Lothar? – in dem Rathskeller die schöne Zukunftsrede hielt von dem Pfingsten, welches der Menschheit unserer Tage kommen würde mit gewaltigem Brausen, daß die draußen auf der Gasse sich entsetzen und unter einander sprechen und fragen würden: was will das werden? Da stand auch ich noch auf der Gasse und fragte es und lauschte pochenden Herzens auf die geheimnißvolle Stimme von oben, die mir antworten und sagen würde: das will es werden! Ich frage es jetzt nicht mehr. Ich weiß, daß es nichts werden will. Daß es sein wird, wie es war und wie es ist, dem Meere gleich, welches dasselbe bleibt, ob es ebbet oder fluthet; im Sonnenschein ausgebreitet liegt wie ein Teppich, oder im nächtlichen Sturm den Gischt bis zu den Wolken spritzt. Dem Schiffer und dem armen Schalthier ist es nicht einerlei, ob das Meer die Krallen reckt oder einzieht; aber ich kenne noch einen andern Standpunkt als den des Schiffers oder Schalthieres. Ich verlange nicht, daß jene ihn kennen; ich verlange es von Niemand; noch weniger von irgend Einem, daß er sich auf diesen Standpunkt stelle. Es kann das auch Keiner, er sei denn dafür geboren, ein freier Mensch zu sein und des Scharfsinns zu spotten, mit welchem die Menschen Alles, was ihnen ihr liebes Dasein fristen kann, zu einem religiösen Dogma oder zu einer Forderung der Moral, wo möglich zu einem Paragraphen im Strafgesetzbuch machen. Ich habe nun das Unglück oder das Glück, wie man es nehmen will, ein Sohn der Freiheit sans phrase zu sein. Ich habe das auch eigentlich immer gewußt; aber wenn man seines Platzes sicher ist, so hat man es nicht eben eilig, denselben einzunehmen, sondern man streicht daran herum und macht zum Beispiel mit ernstem Bemühen seine Schularbeiten, obgleich man sich gar nichts für die Zukunft von ihnen verspricht, oder seine Staatsexamina mit Prädikaten, oder ruft: nach Utopien! und hält lange socialdemokratische Reden im Schweiße seines Angesichts. Und, meine Besten, wenn es nun wirklich ein socialdemokratisches Utopien gäbe – wie ich mich überzeugt halte, daß es keines giebt – und die Menschheit erreichte es, wäre sie dann nur um ein Haar besser dran als zuvor? Werden die Mütter nicht so weiter in Schmerzen gebären? die Sterbenden sich nicht so weiter in Todesangst winden? Und wenn auch die brutalen Leiden der Natur gemildert, und die socialen, mit denen wir uns jetzt gegenseitig zerfleischen, ganz beseitigt werden könnten – bei der nothwendigen unendlichen Steigerung der Empfindlichkeit auch für kleinere, jetzt noch gar nicht gespürte Leiden, würde sich das Leidensniveau der Menschheit auf genau derselben Höhe halten. Schopenhauer hat das längst gedacht und gesagt; aber er hat Den, welcher sich den Leiden, die unseres Fleisches Erbtheil, durch einen freiwilligen Tod entzieht, mit mystischen Strafen bedroht. Glaubte er an die finale Unwirksamkeit des Selbstmordes, so war er, in diesem Punkte wenigstens, ein Narr; wollte er sich mit dem krausen Schlüssel dieser Behauptung ein Hinterthürchen öffnen, durch das er den Konsequenzen der eigenen Lehre entfliehen könnte, so war er ein Feigling. Wer weder das Eine noch das Andere ist, muß früher oder später zu dem Punkte kommen, wo er gegebenen Falles mit ruhiger Hand die letzte Konsequenz zieht.“

„So mögen Sie denn wenigstens zum Besten unserer Sache möglichst spät zu dem Punkte gelangen,“ sagte der Oberst mit einem sehr ernsten Lächeln. „Aber mir däucht, wir haben unter diesen melancholischen Betrachtungen ganz die Heiterkeit eingebüßt, die unser Gespräch vorhin beflügelte.“

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte Adalbert; „Sie besonders, Herr Oberst, dessen Lebensgrundsätze das gerade Gegentheil derjenigen sind, für welche ich hier Plaidire, und dem ich durch dies Plaidoyer einen wirklichen Schmerz bereite. Aber auch Sie, lieber Pahlen, dessen sanguinisches Temperament meiner Schwarzseherei spottet. Und auch Dich, Lothar, der Du mit Bedauern siehst, daß Dein schöner dichterischer Enthusiasmus bei dem alten prosaisch-nüchternen Kameraden so gar nicht hat zünden wollen. Ich wollte Keinen von Ihnen kränken, im Gegentheil: ich wollte Ihnen Allen für die Liebe danken, die Sie dem Unliebenswürdigsten der Menschen stets bewiesen; für die Langmuth, mit der Sie jeder Zeit seine Unleidlichkeit gelitten und ertragen haben.“

Wir blickten einander verstohlen an. Das klang denn doch wahrlich wie ein Abschied für immer. Oder war es wirklich nur der Jammer um den Tod der Mutter, welchen er so lange in sich verschlossen hatte, und der sich nun in diesen schauerlichen Phantasien Luft machte?

„Sie haben nichts von uns empfangen,“ erwiderte für uns Alle der Oberst, „was Sie uns nicht doppelt und dreifach zurückgegeben hätten.“

Er hatte Adalbert die Hand gereicht, von dessen Gesicht die grausige Starrheit, die uns entsetzt hatte, gewichen war. Pahlen und ich gaben uns alle Mühe, das Gespräch wieder in glatte Bahnen zu bringen; es wollte uns nicht gelingen. Ich erinnere mich nicht mehr wie, aber die Rede war auf jenes Aktenstück gekommen, welches aus dem Schrank des Obersten verschwunden war.

„Da ich doch nicht an Zauberei glauben kann,“ sagte der Oberst, „so bleibt schließlich nur die Annahme eines Diebstahls übrig. Ich habe mich nachträglich mit aller Bestimmtheit darauf besonnen, daß ich die Papiere am Morgen des“ – er nannte das Datum – „zum letzten Male in der Hand gehabt und in den Schrank gelegt hatte, welchen ich – da er nur die sekretesten Sachen enthielt – nicht geöffnet habe, bis es zur Ablieferung des Inhaltes des Schrankes kam, in welchem gerade jenes Fascikel oben auf lag, so daß es einem Diebe, der danach suchte oder auch nur das erste Beste nahm, sofort in die Hand fallen mußte.“

Der Oberst hatte, so oft wir auch über die Angelegenheit gesprochen, noch nie die Angabe jenes Datums gemacht. Ich rechnete nach. Es war derselbe Tag, an welchem ich hier in der Bibliothek während der Abwesenheit des Obersten den Besuch Ellinor’s und Ulrich’s empfangen hatte. Und außer und vor ihnen noch Jemandes! – Deutlich sah ich ihn da stehen – da zwischen dem Schrank und dem Arbeitstisch – mit dem Gesicht nach der Thür – in langen, grauen Ueberzieher, unter dem Arm das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 680. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_680.jpg&oldid=- (Version vom 26.5.2018)