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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Aus diesen feststehenden Thatsachen erklären sich alle Erscheinungen der Blutarmuth und der Bleichsucht. Mangelhaftes Wachsthum und schwache Körperkräfte neben geringer Ausdauer kommen beiden zu: Blutarme sind oder werden in kurzer Zeit mager; Bleichsüchtige können, entsprechend dem reicheren Eiweißgehalt ihres Blutes, ziemlich wohlgenährt und sogar fettreich sein – beide aber entwickeln wenig Wärme und sind deßhalb zum Frieren geneigt und sehr empfindlich gegen Wärmeverluste. Ihre Muskelkräfte sind schwach und von geringer Ausdauer; werden die Kranken durch irgend eine Erregung (Angst, Zorn, Freude, Tanzlust) zu stärkeren Leistungen angespornt, so folgt auf dieselbe um so größere Ermattung und oft langdauernde Erschöpfung. Die geringe Füllung der Adern und die schwächere Färbung ihres Inhalts bedingen die blasse oder bleiche Färbung der Haut und der sichtbaren Schleimhäute. Treibt eine stärkere Erregung durch raschere und kräftigere Herzschläge stärkere Blutwellen in die Adern, so kehren Farbe und Glanz zurück und können bei zarter Haut und während der Dauer der Erregung einen trügerischen Schein blühender Gesundheit erwecken. Aber dieser Schein geht allemal rasch vorüber; Herzklopfen und Athemnoth mahnen die Kranken, daß die Anstrengungen ihre Kräfte übersteigen; wieder eingetretene Blässe, Erschlaffung und selbst Ohnmachten zeigen, daß die im Blute und den Organen vorräthigen Spannkräfte schnell verbraucht sind.

Auch das Gehirn und die Nerven sind bei diesen Kranken wohl für kurze Zeit ziemlicher Leistungen fähig, ermüden aber schnell und erholen sich langsam. Beim Lernen, beim Anhören und Ausüben der Musik, bei scharfem Denken und anderer Geistesarbeit stellt sich nach kurzer Erregung große Abspannung ein, die sich bald durch aufgeregte oder weinerliche Stimmung, bald durch Schlaflosigkeit, oft durch Kopfschmerzen und Todesmattigkeit zu erkennen giebt. Die auf dem Blutmangel beruhende schlechte Ernährung des gesammten Nervensystems äußert sich oft durch Schmerzen in den verschiedensten Körpertheilen, durch Ohrensausen, Verdunkelung des Gesichts, durch traumartige Ideenflucht und sogar Delirien, durch unstäte Muskelzuckungen und Krämpfe, wie Veitstanz und Hysterie mit fallsuchtartigen Zufällen, durch Verstimmungen des Gemüths und der Seelenthätigkeit, die zu förmlichen Geistesstörungen führen können.

Zu diesen Symptomen gesellen sich ferner Störungen der Verdauung. Die Kranken empfinden einen förmlichen Heißhunger, der sich plötzlich einstellt und ein gesteigertes Nahrungsbedürfniß anzeigt. Aber dieses kann in der Regel nicht befriedigt werden, denn bald darauf tritt das Gefühl der Uebersättigung ein. Verdauungsbeschwerden, Appetitlosigkeit, Widerwillen gegen kräftige Nahrung und sonderbare Gelüste nach sauren, scharfen, pikanten Speisen verrathen eine krankhafte Schwäche der Verdauungsorgane. Der Mangel an rothen Blutkörperchen verhindert endlich die genügende Aufnahme des belebenden Sauerstoffs.

Aus diesen Gründen ist die Stärkung der Kranken durch zweckmäßige Ernährung mit großen Schwierigkeiten verbunden und die Aussicht, auf natürlichem Wege zur Genesung zu gelangen, äußerst gering. Die Krankheit erschöpft sich nicht wie manche andere, sondern trägt in sich selbst die Ursachen ihrer Verschlimmerung. Außerdem sind die Blutarmen und Bleichsüchtigen wegen ihrer geringeren Widerstandskraft gegen schädliche Einflüsse vielen andern Krankheiten häufiger und mit größerer Gefahr ausgesetzt, als rüstige Menschen; und endlich verstecken sich oft unter dem Bilde der Blutarmuth und Bleichsucht die ersten Anfänge verderblicher Krankheiten.

Wir sehen ein Kind im ersten oder zweiten Lebensjahr vor uns, das vielleicht von Geburt an etwas schwächlich war, weil es von einer blutarmen Mutter herstammt, oder das erst schwächlich geworden ist, weil es aus der Mutterbrust keine kräftige Nahrung bekommen hat oder mit eiweißarmen Nahrungsmitteln gefüttert ist. Die Mehlsuppen, auch die aus den besten Kindermehlen bereiteten, die mit Zucker eingedickte Milch und sogar gute Kuhmilch liefern sämmtlich viel weniger Eiweißstoffe als gute Muttermilch. Kein Wunder also, daß Säuglinge, die aus diesen Nahrungsmitteln ihr Blut bilden und ihren Körper aufbauen sollen, schwächlich werden, daß Blässe und Magerkeit so wie geringes Wachsthum diese Kinder kennzeichnen. Die schwachen und spärlichen Verdauungssäfte sind nicht im Stande, die gebotenen Nahrungsstoffe ordentlich zu verdauen: theils gehen dieselben als weiße Klumpen unverdaut ab, theils bilden sich aus ihnen ungehörige Zersetzungen, die den Darm reizen und nur eines geringen Anstoßes, etwa beginnender Säurebildung in der Nahrung, bedürfen, um in verderbliche Durchfälle, oft mit Erbrechen verbunden, überzugehen. Rasche, bis zu den äußersten Graden zunehmende Blässe und Abmagernng kennzeichnen die Blutarmuth, welche nun ihrerseits wieder Unruhe, Geschrei, Schlaflosigkeit, Zuckungen und Krämpfe herbeiführt, bis der Tod den Leiden ein Ende macht. Viele von diesen schlechtgenährten Kindern erliegen nicht gerade der Blutarmuth und erschöpfenden Durchfällen, sondern einer andern Krankheit, namentlich einer Lungenentzündung, deren Ursachen und Wirkungen sie weniger zu widerstehen vermögen, als blutreiche, kräftige Kinder.

Oder ein Kind in den Schuljahren wird blaß und schlaff. Die Lehrer klagen über Unaufmerksamkeit; die häuslichen Arbeiten gerathen nicht so gut wie früher, obgleich der Schüler länger darüber hockt; auch zu häuslichen Beschäftigungen, zur Bewegung im Freien, zum Turnen und Spielen schwindet die Neigung. Das Kind sitzt oder liegt müßig umher, oder holt längst vergessene Spiele und Geschichten wieder hervor, mit denen es ohne Körper- und Geistesanstrengung die Zeit verbringt. Auch dieses Kind ist blutarm, und die Gründe seiner Erkrankung sind leicht zu finden. Das viele Sitzen in eingeschlossener, oft recht schlechter Luft in der Schule und zu Hause und die Anstrengungen der Schule, womöglich durch Privatstunden und vorzeitigen Musikunterricht gesteigert, kommen zunächst in Betracht. Oft auch untergraben die Gesundheit der Schuljugend gesellige Vergnügungen und Zerstreuungen, wie Tanzgesellschaften, Theater und Koncerte, wodurch Nerven und Hirn vollends erschöpft werden; endlich gesellt sich zu diesen schädlichen Einflüssen Mangel an Schlaf durch Spätzubettgehen, dumpfe ungelüftete Schlafstuben!

Mehr oder weniger rasch sich entwickelnde Blutarmuth, in den Entwickelungsjahren bei jungen Mädchen auch die eigentliche Bleichsucht, sind die nächsten Folgen dieser verkehrten Lebensweise, aus denen dann weiter mancherlei schon oben angedeutete krankhafte Zustände und Krankheiten sich herausbilden können. Diese Gefahren sind besonders groß in den ersten Schuljahren, vorzüglich wenn die Kinder zu früh, mit noch unkräftigem Körper und Geist in die Schule geschickt werden; ferner in den Jahren des raschen Wachsthums, wo die gesteigerten Anforderungen der Schule mit den ebenfalls gesteigerten Ansprüchen des Körpers in verhängnißvollen Widerstreit gerathen; und endlich in den Zeiten der Schulprüfungen, wo die Vorbereitungsarbeiten in Verbindung mit Angst und Sorge oder mit aufreibendem Ehrgeiz auf Kosten der Erholung durch Bewegung und Spiele im Freien, und nur zu oft auch auf Kosten des Schlafes, die Kräfte verzehren.

Zu den häufigsten Folgen dieser Blutarmuth der Heranwachsenden gehören mangelhafte Entwicklung der Knochen und Muskeln, wodurch Haltungsfehler, Verbiegungen des Rückgrats und der Rippen (Schiefheit, hohe Schulter und Hüfte) und Verkümmerung der Brustweitung entstehen. Und diese Erscheinungen sind nicht bloß Schönheitsfehler, sondern oft verderblich für die ganze körperliche und geistige Entwickelung, denn durch sie wird die Ausbildung zur Vollkraft gehemmt oder ausgeschlossen und sehr häufig der Lungenschwindsucht die Stätte bereitet. In dem durch schwaches Wachsthum der Rippen, besonders der oberen, flach und eng bleibenden Brustkasten können die Lungen sich nicht gehörig entwickeln und durch freie und tiefe Athemzüge sich ordentlich ausdehnen; die Lungenspitzen bleiben oder werden vor Allem schwach und welk und gewähren den Tuberkelbacillen, jenen zerstörenden Keimen der Schwindsucht, Sitz und Boden für ihr verderbliches Werk. Verfallen in Folge irgend einer äußern Ursache solche blutarme Knaben und Mädchen, Jünglinge und Jungfrauen in eine heftige Krankheit, so nehmen jene Schwächen und Fehler in der Regel einen rascheren und schlechteren Verlauf, und auch die Krankheiten selbst pflegen schlimmer und gefährlicher zu werden, als bei vollkräftigen, blutreichen Personen.

Eine recht häufige und böse Folge der Blutarmuth und Bleichsucht ist ferner das aus mangelhafter Bewegung des Blutes in kleinen Aederchen der Magenschleimhaut hervorgehende runde Magengeschwür, welches wegen seiner anfangs unbedeutenden oder wechselnden Erscheinungen nur zu oft für Magenkatarrh oder Magenkrampf gehalten wird, bis plötzlich eine lebensgefährliche Blutung den wahren Stand der Dinge enthüllt. Aehnliche Stockungen kommen bei Blutarmen wegen der Herzschwäche, die das Blut nicht überall in Fluß zu halten vermag, zuweilen auch in anderen Organen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_691.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2022)