Seite:Die Gartenlaube (1886) 695.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Und schließlich, welches Mittel hatte meine Mutter gehabt, seinen Willen unter ihren Willen zu beugen?

Und wieder hatte sie in meiner stummen Seele gelesen. Sie begann von Neuem:

„Wenn Jemand den Göttern des Lichts zum Guten nicht folgen will, darf er sich nicht wundern, wenn man, ihn vom Bösen abzuschrecken, Gespenster heraufbeschwört – die Gespenster seiner Vergangenheit. Das mag grausam sein, unedel ist es nicht. Was unedel daran erscheint, fällt auf ihn zurück, der sich freiwillig zum Edlen nicht bekennt. Vielleicht, daß ich Dir später auch dieses Räthsel lösen kann. Für jetzt, denke ich, habe ich meine Absicht erreicht: Dich in eine Stimmung zu bringen, in der Du das letzte Blatt des traurigsten Kapitels Deines Lebens, lesen kannst, ohne eine Rührung, die es nicht verdient.“

Las ich für diesmal in ihrer Seele? Wollte sie, indem sie mich stark machte, sich selbst stark machen zu der Scene, die uns bevorstand in dem Schlosse dort, das jetzt, nachdem wir die Höhen überschritten hatten, in dem breiten Thale vor uns zwischen den noch unbelaubten Massen seiner Parkbäume auftauchte? In dem Schlosse, von dessen höchster Zinne die seidene Fahne wehte, wie an jenem Abend, der die letzte grausige Scene des Dramas meines Hoflebens sah, als ich von der Marmorschwelle floh, nimmer denkend, daß ich dieselbe jemals wieder betreten würde, noch dazu an der Hand meiner Mutter?

Und ich ergriff ihre Hand, die ich mit stürmischen Küssen bedeckte und noch in der meinen hielt, als wir die Rampe hinauffuhren und der Wagen vor dem Portale hielt.

12.

Meine Mutter hatte dem Herzog geschrieben, daß sie vorerst allein von ihm empfangen zu werden wünsche. Ich wußte also, warum der uns durch die Halle voranschreitende Hausmeister, die Thür zu einem der Kabinette öffnend, nur mich mit einer Verbeugung zum Eintreten aufforderte, während er mit einer zweiten Verbeugung zu meiner Mutter sagte: „Hoheit erwartet die gnädige Frau im Marmorsaal.“

In dem Marmorsaal! So hatte er also meine Mutter in demselben Raum empfangen wollen, in welchem sie sich damals zum letzten Mal gesehen hatten! Es war das eine seltsame Wahl, däuchte mir, die eine freundlich ruhige Begegnung von vornherein unmöglich zu machen schien. Oder war das eben die Absicht gewesen? Hatte er gerade an die Vergangenheit anknüpfen und Erinnerungen wecken wollen, von denen er hoffte, daß er sie zu seinen Gunsten verwerthen könne – trotz alledem? Nun, wenn ich es noch nicht gewußt hätte, ich wußte es jetzt: meine Mutter stand seinen Hoffnungen und Wünschen, welche dieselben nun sein mochten, zu hoch; und, wie sie mich zu dieser Begegnung, deren letzter Zweck mir jetzt völlig räthselhaft geworden war, gewappnet hatte, so war sie gewappnet.

Dennoch schritt ich unruhig, ungeduldig in dem langgestreckten Gemach auf und ab, durch dessen einzige große Fensterthür der letzte Abendschein fiel. Es war dieselbe Tageszeit, in welcher ich damals aus dem Walde gekommen, als ich ihm und Adele dort im Park begegnet war. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, war dies sogar dasselbe Gemach, in das Adele, als sie den Herzog und mich auf der Rampe verließ, gegangen, und aus welchem sie hernach herbeieilte, als die Scene zwischen ihm und mir jene lächerliche Wendung nahm, die in so fürchterlicher Tragik enden sollte. Dann aber war der Raum nebenan der Marmorsaal!

Ich kehrte vom Fenster wieder um nach der einzigen Thür, welche die beiden Räume verband. Die weiße vergoldete Thür mußte während der zwei Jahrhunderte, die sie in den Angeln hing, ihre Dichtigkeit eingebüßt haben – ich hörte deutlich nebenan sprechen: die tiefe Stimme des Herzogs, jetzt die wohltönende, klare der Mutter; dann wieder die seine mit einer mühsam unterdrückten Heftigkeit, wie mir schien, die mir das Blut zum Herzen trieb und mich an die Thür bannte, entschlossen, für meine Mutter einzutreten, mochte es dann kommen, wie es wollte. Sie hatte wieder das Wort:

„Noch einmal: Adele ist schuldlos. Mich und mich allein trifft die Verantwortung. Ich habe ihren widerstrebenden Händen diese Waffe entrissen. Ob ich es mußte? Mag Ihr Gewissen Ihnen darauf die Antwort geben! Hier sind die Papiere. Sie sind durch Niemandes Hände sonst gegangen; Hoheit sind und bleiben der patriotische Fürst, auf den auch nicht der Schatten des Verdachtes einer schwachen unpatriotischen Stunde fallen kann. Und nun, Hoheit, da ich mein Versprechen in der von Ihnen ausbedungenen Weise erfüllt habe –“

Der Herzog fiel hier ein mit leiseren Worten, aus denen ich nur meinen Namen herauszuhören glaubte, bevor ich die Thür, an der ich – der Himmel weiß es! – zum unfreiwilligen Lauscher geworden war, verließ und nun wieder nach dem Fenster eilte, gegen das ich die glühende Stirn drückte.

Ich weiß nicht, wie lange ich so gestanden bin. Dann vernahm ich einen Schritt hinter mir. Ich wandte mich – es war der Herzog.

„Noch immer der alte Träumer?“

Seine Stimme hatte dabei leicht gebebt, und so bebte seine Hand, die er mir jetzt reichte. Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich erst deutlich sein Gesicht. Es schien mir sehr gealtert; oder hatte nur die Erregung, in welcher er sich so sichtlich befand, ihm diese tiefen Furchen in Stirn und Wangen gezogen und die Augen mit so dunklen Rändern umgeben? Auch mußte ich noch gewachsen sein, oder war seine Haltung nicht mehr die straffe von sonst: ich hatte, als wir einander jetzt mit unsicheren Blicken in die Augen sahen, seine volle Höhe. Er bemerkte es ebenfalls und sagte mit einer bezeichnenden Handbewegung, gezwungen lächelnd: „Sie haben sich dazu gehalten, wahrhaftig! – Der Kaiser ist“ – dabei berührte er leise meinen Arm – „um einen stattlichen Gardisten gekommen. Aber lassen Sie uns zu Ihrer Frau Mutter gehen! Sie erwartet uns.“

Er schritt mir voran – auch sein Schritt war schwerer und doch nicht mehr der alte kräftige – durch die nun offen stehende Thür in den Marmorsaal, wo meine Mutter in der Nähe des großen Tisches mit der prächtigen Mosaikplatte, der ziemlich die Mitte des Raumes einnahm, in einem Fauteuil saß. Ich warf einen hastig prüfenden Blick in ihr Gesicht: es war sehr ernst, fast traurig; aber ohne den leisesten Zug von Befangenheit oder Erregung. Gott sei Dank!

Der Herzog hatte ihr gegenüber wieder seinen Platz eingenommen, während ich zwischen Beiden, aber näher an meiner Mutter, zu sitzen kam. Es schien sich eine gleichgültige Unterhaltung anspinnen zu wollen, wie ich das bei dem Herzoge gewohnt war, bevor er an sein eigentliches Thema kam. Denn das konnte doch wohl schwerlich mein „Thomas Münzer“ sein, von welchem er jetzt zu sprechen begann. Ich hatte auf Lamarque’s Rath das Stück „den Bühnen gegenüber als Manuskript“ drucken lassen; es war dem Herzoge von seinem Intendanten vorgelegt worden. – „Natürlich! wie würde ich denn ein Stück nicht lesen, das zum guten Theil mir gehört – ohne damit der Originalität des Autors zu nahe treten zu wollen, gnädige Frau! Ich weiß nicht, ob Ihnen Lothar erzählt hat, wie wir seiner Zeit das Ganze und jede einzelne Scene durchgesprochen haben, worauf sich denn allerdings meine Mitarbeiterschaft beschränkt. Was freilich nicht ausschließt, daß ich eben Alles selbst geschrieben zu haben glaube, besonders den fünften Akt.“

Ich verbeugte mich, innerlich auf das Peinlichste berührt von dem gesellschaftlich glatten Ton, in welchem er sprach, offenbar nur, um zu sprechen, noch dazu so haltlos unwahre Dinge. Das Stück war ganz nach meinem alten, von ihm völlig verworfenen Plan wiederhergestellt worden, und gerade der fünfte Akt das genaue Gegentheil von dem, worauf er hinausgewollt hatte. Ich wagte nicht, meine Mutter anzusehen, die den Sachverhalt genau kannte.

„Haben Sie etwas Neues unter der Feder?“

Ich nannte den Titel eines Trauerspiels, an welchem ich, während Lamarque den „Münzer“ inscenirte, zu arbeiten begonnen hatte.

„Das ist brav! Nur sich nicht durch die Herren Kritiker abschrecken lassen, von denen neun unter zehn gar keine Meinung haben – man müßte denn die pure Böswilligkeit so nennen, und der Zehnte, der sich etwa einer erfreut, hat wieder nicht den Muth seiner Meinung. Da ist denn freilich unser junger Freund hier von anderem Schlage, und er hat es mir bewiesen!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 695. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_695.jpg&oldid=- (Version vom 18.2.2022)