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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sorge um das, was mir die nächste Stunde bringen werde, daß ich den frommen Betrug nicht sofort durchschaute! Nicht einmal hinterher aus dem Benehmen und den Reden der Mutter merkte, daß da unteu Alles entschieden war! Von den beiden Herzen, die ich durchaus hatte vereinigen wollen und schlagen lassen in unlösbarem Liebesbunde, stand das eine still für immer!

Und das andere?

Was es verloren, das wußte wohl Keiner so gut wie ich, und welche götterhafte Seelenstärke sie erfüllte, deren Hand nicht einmal gezittert hatte, als sie diese Zeilen schrieb:

„Ich hatte keine Zeit, eine neue Seite anzufangen. Ich wurde gerufen – Liebste Freundin, das Schicksal will mich durchaus zur barmherzigen Schwester machen – Ulrich ist seinen Wunden erlegen – das ist der dritte geliebte Todte nun binnen vierzehn Tagen! Nur daß ich ihm doch noch in die brechenden Augen sehen, von seinen erbleichenden Lippen ein letztes Lebewohl vernehmen konnte. Lebe wohl! Das heißt für mich: lebe weiter in Erfüllung der Pflichten, denen Du Dich geweiht hast; bei deren Erfüllung Keiner von Dir verlangen darf, daß Du auch lachen könntest. Eine Gattin muß es können, eine Mutter – die Natur hat mich zu beiden nicht gewollt. Man hat schon Ursache, ihr dankbar zu sein, wenn sie ausnahmsweise einem Menschen mit so sicherer Hand den Weg deutet, den er gehen soll. – Ich erwarte Sie übermorgen. Sie werden mir gern in diesen schweren Stunden zur Seite stehen. Lothar muß Sie mir so lange lassen. Wählen Sie vorsichtig die Stunde, in welcher Sie es ihm sagen zu dürfen glauben. Ihn wird der Schlag noch härter treffen als mich, weil er ihn so viel weniger vorbereitet trifft als mich, und Hoffnungen in seinem liebevollen Herzen zerstört werden, die ich nie getheilt habe. Möchte es doch die letzte dieser Art von Enttäuschungen sein, die seine weiche Seele zu der Stahlhärte hämmern müssen, welche das Leben von uns fordert! – Auf Wiedersehen übermorgen! Maria.“

Ich hatte das Blatt auf die Kniee sinken lassen und saß so, zum Fenster hinausstarrend, an welchem die liebliche Landschaft in bunten Bildern vorüberzog, die ich doch nur mechanisch sah – mit dem äußeren Auge, während vor dem inneren andere Bilder aufstiegen – Bilder längst vergangener Tage, als ich noch nicht wußte, was Frauenliebe war und mein Herz an ihm gehangen hatte mit ach! welcher Zärtlichkeit, welcher Ausschließlichkeit! Mein Gott, wie deutlich ich ihn sah, den stolzen Knaben mit der gelben Löwenmähne und den rollenden blauen Augen, die doch wieder so gut, so treuherzig, so liebevoll blicken konnten! War je ein Mensch geboren, in dem Alles beisammen war, was Einer haben muß, der als ein Ritter ohne Furcht und Tadel durch das Leben gehen soll – so schien er es gewesen zu sein. Und die Furcht war ihm ja auch fremd geblieben, und was von Tadel an ihm haftete, für mich hatte es jetzt des Todes dunkle Welle fortgespült. Und er stand vor mir als das Urbild einer Zeit, deren Ideale faßlicher und deßhalb auch poetischer sind als die der unseren – und von denen wir uns deßhalb so ungern und so mühsam losringen und doch losringen müssen – wie ja auch ich mich blutenden Herzens von dem Zauber, mit dem der Prachtmensch einstmal mein Herz und meine Phantasie gefesselt hielt, losringen mußte und losgerungen hatte.“

Aber war denn nicht mein Leben von frühester Jugend auf ein solches Losringen gewesen: von diesem Wahn? von jener Illusion? hier von einer göttlichen Hoheit? da von einer irdischen Majestät? Hatte ich nicht der Wahrheit – dem, was ich für Wahrheit hielt – jedes Opfer gebracht – früher und später und noch gestern? Wahrlich gestern nicht das kleinste! Und war ich nicht – wenn kein Urbild, wie jener Kraftmensch von der seinen – so doch ein Abbild und Kind meiner Zeit? Einer von den Tausenden, welche die Kühle geweckt hat, die vor der aufgehenden Sonne herwittert und die, ergriffen von Ahnungsschauern, nach Osten starren, wo am Horizonte ein röthlicher Streifen sich über den anderen legt, den Tag verkündend, der da kommen will und wird? Hatten sie, die wahren Gefährten meines Lebens – den einen Adalbert ausgenommen, der, ein völlig Freier, geboren und so gestorben war – nicht alle ringen müssen, wie ich: die Mutter, der Onkel, Maria, Pahlen? Hatte meine herzige Adele sich nicht den rauhesten Weg über die zertrümmerten tausend Kostbarkeiten eines aristokratisch ausnahmsweisen Lebens, wenn nicht von ihrem Kopf, der durchaus nicht mitthun wollte, so doch von ihrem Herzen vorschreiben lassen, dem kein Opfer zu schwer gewesen war für den geliebten Mann? War meine geliebte Ellinor nicht in demselben Fall, ja in einem viel kritischeren, da sie durchaus nicht nur ein liebebedürftiges, liebeseliges Herz war, wie Adele, sondern ihr kluger Kopf auch mitsprach und Ja und Amen sagen mußte zu dem, was das Herz wollte?

Und, den Schmerz und die Trauer um den todten Freund jäh durchbrechend, überfiel mich eine unendliche Sehnsucht nach der Geliebten und zugleich eine herzbeklemmende Angst und Sorge, ich möchte sie nicht so wiederfinden, wie ich sie vor zwei Tagen verlassen: zärtlich, liebevoll – mein, wie sie mir zugeschworen mit soviel heißen Küssen; mein für immer, mochte die Zukunft bringen, was sie wollte! Vergebens, daß ich mich einen ihrer Liebe Unwürdigen, einen Verräther unserer Liebe schalt – die Grauengestalt der Sorge, die sich so plötzlich zu mir gedrängt, wollte nicht weichen. Immer starrer blickten die hohlen Augen, immer eisiger wehte mich ihr Grabesathem an.

Was konnte ihr an meiner Seite werden als unendliche Mühsal? Meine Mutter würde, auch wenn die Abwicklung ihrer Vermögensangelegenheiten den ungünstigsten Verlauf nahm, nach deutschen Begriffen noch immer eine wohlhabende, vielleicht reiche Frau bleiben; aber es war zwischen uns abgemacht, daß sie das ganze Kapital in einem bedeutenden Institute anlegen werde, welches der Erziehung verwahrloster Kinder dienen solle nach den ein wenig abgemilderten Principien der Frau von Werin. Meine Mutter würde an der Spitze dieses Institutes stehen, dem sie ihre ganze Kraft und Zeit widmen wollte, wie ich jetzt nicht mehr zweifeln durfte, zusammen mit Maria. Ich war für die Zukunft auf meine Kraft, meinen Fleiß, mein Wissen, mein Talent angewiesen. Ich glaubte, daß ich mich auf meine Kraft, ich wußte, daß ich mich auf meinen Fleiß verlassen könne; ich hatte, Dank der Anleitung des Onkels, bereits mein Wissen ansehnlich vermehrt, würde es in seinem Dienst, an seiner Seite weiter vermehren; von meinem Talente hoffte ich nichts mehr. Ich hatte im „Thomas Münzer“ mein Bestes gegeben und eine schauerliche Niederlage erlitten – in den Augen der Welt, die denn doch in dieser Sache thatsächlich den Ausschlag gab. Noch einen Versuch wollte ich machen – freilich: ich glaubte das mir selbst und meinen Freunden schuldig zu sein. Aber, was sie mir auch Ermuthigendes sagen, in welchen Hoffnungen sie sich für mich wiegen mochten – ich selbst sah in diesem letzten Versuch nur einen ehrenvollen Rückzug aus der Provinz der Dichtung, die ich so wenig hatte erobern können wie die der Schauspielkunst. Das heißt, ich war zum Handlanger eines Gelehrten bestimmt, zu einem gelehrten Handwerker im besten Falle; und wer mochte wissen, ob ich nicht endlich doch zu dem wirklichen Handwerk würde zurückkehren müssen?

Das Alles hatte ich mir ja längst völlig klar gemacht, es der Geliebten klar zu machen gesucht. Sie hatte ja auch geduldig zugehört, und wenn einmal ein ungläubiges Lächeln ihre Lippen schürzte, hatte ich es ihr weggeküßt und am Ende gar gemeint, daß Küsse überzeugende Gründe seien. In der trübseligen Stimmung von heute wollte mir das nicht so erscheinen; wollte mir scheinen, als sei diese meine Liebe nur ein schönes Irrlicht, mich aus meinem Wege zu locken. Ich würde der Lockung widerstehen; aber welche Zukunft öffnete sich da für mich, der ich mich in meinem Streben und Schaffen von der Geliebten nicht verstanden sah? für sie, die schwerlich Adele’s köstliche Selbstlosigkeit besaß und das Genie der Liebe, das sich sein Gesetz nur aus dem Herzen holt und in seiner völligen Sicherheit der Einwendungen spotten, darf, die der Verstand etwa macht ?

Eine fürchterliche Unruhe hatte mich gepackt, die ich auf keine Weise meistern konnte, und in der meine zwiespältigen Gedanken durch einander geschleudert wurden, wie in einem wüthenden Meer die Trümmer eines zerschellten Wracks.

O der schrecklichen Fahrt, die kein Ende nehmen zu wollen schien! in dem engen Gefängniß, das ich immer noch für mich allein hatte, um mich bald in diesen, bald in jenen Sitz zu werfen und dann wieder aufzuspringen und die paar Schritte zwischen den Polsterbänken zu Hunderten von Malen auf- und abzumessen. Das einförmige Rasseln des Zuges wurde mir zur

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 698. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_698.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)