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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 40.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ueber den Gartenzaun.
Erzählung von A. Weber.


Ja, wenn nur der Maulbeerbaum am Gartenzaun nicht gewesen wäre! Der hat die ganze Geschichte auf dem Gewissen. Aber so machen’s die Dinge immer: schon das kleine Kind muß den Tisch schlagen, weil derselbe seinem Köpfchen nicht hat ausweichen wollen. Und mit derselben Tücke stellen sich uns vernünftigen Menschen die unvernünftigen Dinge unser ganzes Leben lang in den Weg, so daß wir über sie stolpern und uns stoßen müssen; oder sie reizen uns, bis wir um ihretwillen Sünde thun und hinterher den Schaden davon haben.

Und so ist es, wie gesagt, der Maulbeerbaum, welcher diese Geschichte auf seinem Gewissen hat – er und allerdings auch zwei Ohrfeigen, die in zwei kritischen Augenblicken gegeben und empfangen wurden; aber der Maulbeerbaum ist doch der eigentliche Schuldige. Er stand dicht an einem Zaun, welcher die Gärten zweier merkwürdig gleichartiger Bauernhäuser in Szegedin trennte. Aber versteht mich recht: nicht die völlige Gleichartigkeit dieser Gebäude an sich wäre merkwürdig gewesen; denn der weitaus größte Theil der großen Stadt Szegedin besteht aus Reihen von niedrigen, mit weißem Kalk beworfenen Bauernhäuschen, welche für das Auge des Fremden einander so ganz und gar gleichen, daß er in diesen Straßen sich verirren kann, wie ein Unkundiger auf der weiten See oder in der Heide aus Mangel an unterscheidenden Merkzeichen. Von allen diesen weißen Bauernhäuschen heben sich die erwähnten zwei durch ihre Eigenart stark ab. Das eine hat grüne, das andere rothe Fensterläden und Thüren und in umgekehrter Reihenfolge das eine rothe, das andere grüne Quadrate über den weißen Wänden; denn sie bestehen nicht aus Lehm, sondern aus Fachwerk, und zeigen diesen Vorzug durch besagte Malerei. Ferner sind sie, wenn möglich, noch sauberer als die anderen Häuschen, haben auch jedes ein Vorgärtchen, dessen Buchsbaum, Narcissen und Lilien im Sommer mit dickem Staub bedeckt sind, in den übrigen Jahreszeiten aber im Sumpf versinken. Geht man durch die grün oder roth bemalte Hausthür, so tritt man bei beiden Häusern linker Hand in eine Küche, welche von schön bemalten Näpfen und Löffeln schillert und in deren Estrich mit Wasser geometrische Figuren gegossen sind, rechter Hand aber in ein großes Zimmer, welches den unerhörten Luxus eines Sofas und eines großen Spiegels aufweist. Geht man dagegen durch die hintere Thür in den Hof, so findet man in dem Vordertheil des einen kindliche Versuche, in abgezirkelten Beeten eine Art von Teppichgärtnerei zu erzielen, in dem des andern schöne, wohlgepflegte, alte Bäume, Flieder- und Jasminsträucher und dicht am Zaun einen Maulbeerbaum, eben jenen schon genannten Schuldigen, der seine mächtigen Zweige weit in den Nachbargarten hineinstreckt und demselben den einzigen Schatten spendet, welchen er überhaupt aufzuweisen hat. Diese beiden


„Morgen muß ich fort von hier.“0 Originalzeichnung von E. Hesse.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 705. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_705.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)