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meridionali“), „halten sich fast das ganze Jahr dort auf und kommen nur alle vierzehn bis zwanzig Tage in die Stadt, um Frau und Kinder zu sehen. Auf dem Lande schlafen sie in einem Gelaß zu ebener Erde in Nischen, die ringsum in die Wand gehöhlt sind, auf einem Strohsack. Ihr Vorgesetzter ist ein ‚Massaro‘ (Verwalter), der ihnen täglich auf Kosten des Gutsherrn ein Kilo Schwarzbrot verabreicht. Diese Bauern arbeiten von der Morgendämmerung bis Sonnenuntergang; um zehn Uhr Vormittags ruhen sie eine halbe Stunde aus und essen ein wenig von ihrem Brot. Abends, wenn die Arbeit zu Ende ist, setzt der ‚Massaro‘ einen großen Kessel aufs Feuer und siedet Wasser mit ein klein wenig Salz darin. Die Bauern stellen sich in der Reihe auf, zerschneiden ihr Brot und legen es auf einen Holzteller, auf den ihnen der Massaro etwas gesalzenes Wasser nebst ein paar Tropfen Oel gießt. Das ist das ganze Jahr über ihre Suppe, und nie genießen sie andere Kost, als zur Erntezeit, wo sie überdies einen bis zweieinhalb Liter Tresterwein erhalten, um sich auf die härtesten Strapazen vorzubereiten. Jeden Tag sparen sie noch ein Stück von ihrem Schwarzbrot auf, um es zu verkaufen oder nach Hause zu bringen. Damit und mit einem Jahreslohn von 132 Lire sowie einem halben Tomolo[1] Mehl und einem halben Tomolo Bohnen, die sie nach der Ernte erhalten, müssen sie ihre Familie ernähren. Ueberdies haben die Grundbesitzer noch aus feudalen Zeiten her ein Recht auf unentgeltliche Arbeit ihrer Bauern für bestimmte Tage. Und nicht selten geben sie, statt den Lohn in Cerealien oder Geld zu zahlen, den Arbeitern ein bestimmtes Maß desjenigen Produkts, das gerade in Ueberfülle vorhanden ist, wie Citronen oder etwas Aehnliches, das wegen mangelnden Exports verfaulen müßte.“

Diese wenigen Züge mögen genügen, um den Zustand der ländlichen Bevölkerung in den südlichen Provinzen Italiens zu kennzeichnen. Aus den Reihen dieser Enterbten lösen sich jeder Zeit stärkere und gewaltthätigere Naturen oder solche, denen außer der socialen Unbill noch eine private zugefügt ist, ab, um das Recht des Stärkeren, das sie so lange erlitten haben, nun ihrerseits auf eigene Faust an der Gesellschaft zu üben. Durch die Lage ihrer heimatlichen wenig bereisten Gebirgsgegenden geschützt, schließen sie sich in Banden zusammen, fangen reiche Gutsbesitzer und vornehme Reisende weg, deren Familien ein stattliches Lösegeld zu entrichten haben und häufig durch ein eingesandtes Ohr des Sequestrirten an prompte Bezahlung gemahnt werden. Dabei darf jedoch nicht verschwiegen werden, daß manche Briganten aus Menschenfreundlichkeit stets einen Vorrath abgeschnittener Leichenohren bei sich führen sollen. Das ist das Brigantenwesen in den gewöhnlichen Zeitläuften, und es ist gar nicht lange her, daß die italienische Regierung der englischen das Lösegeld heimzahlen mußte, welches die letztere für einen britischen Unterthan entrichtet hatte, dessen Zahlungsfähigkeit von den Banditen bei Weitem überschätzt worden war. Der gemeine Mann nimmt den Briganten mit offenen Armen auf und feiert in ihm den Verfechter der Unterdrückten; der Besitzende zahlt ihm gutwillig eine Steuer, um ihn nicht zum Feinde zu haben – auch die Ortsbehörde wählt häufig von zwei Uebeln das kleinere, indem sie sich lieber dem Unwillen der Regierung als der Rache der Briganten aussetzt, und das Beispiel jenes Syndikus steht wohl nicht vereinzelt da, welcher nach vollbrachter Plünderung den Räubern sagte: „So, nun macht, daß Ihr fort kommt; denn ich muß jetzt meine Pflicht als Staatsbeamter thun und die Soldaten rufen, damit sie Euch vertreiben.“ Dieser treue Staatsdiener rühmte sich dann bei Ankunft der Soldaten, die Briganten selbst in die Flucht gejagt zu haben.

Traten nun aber früher noch politische Wirren hinzu, in denen es eine gefallene Regierung sich nicht zur Schande anrechnete, ihr Banner in die Hände von Straßenräubern zu geben, so fraß das Feuer schnell auf dem ganzen Süden der Halbinsel um sich, und alsdann begann der eigentliche „Brigantaggio“, der wohlorganisirte militärische.

Das Bourbonenthum, das aus Furcht vor Bildung und Aufklärung den Bürgerstand unterdrückte und dem gemeinen Mann durch die Finger sah, war zu allen Zeiten bei den niederen Volksschichten beliebt und ist es vielleicht noch heute. Im Süden Italiens giebt es nur zwei Stände: den „galantuomo“ und den „cafone“, das heißt den Besitzenden und den Proletarier, und sehr scharfsinnig bemerkt ein geistreicher französischer Schriftsteller, der viel über den „Brigantaggio“ schrieb, daß schon um seines Ehrentitels willen der „Re galantuomo“ (Viktor Emanuel) dem Südländer verdächtig war, denn er witterte in ihm einen König der Reichen, während Franz II. ein König der „Cafoni“ gewesen. Kein Wunder also, daß von Fra Diavolo bis auf die sechziger Jahre die Legitimität ihre glühendsten Vertheidiger im Auswurf des Volkes fand; denn ein Funke Idealismus lebt in jeder Menschenbrust, und auch der Brigant macht seine Sache besser, wenn er zugleich für Thron und Altar zu kämpfen glaubt.

Proteusartig nimmt der Brigant tausend Gestalten an; er ist überall und nirgends; während ihn ein Bataillon in den Wäldern sucht und sich in beschwerlichen Gebirgsmärschen aufreibt, mäht er vielleicht friedlich als Schnitterin verkleidet das Gras in der Ebene oder er kommt den Soldaten als ein freundlicher Eseltreiber entgegen, der ihnen gegen Lohn die Wege weist, auf denen sie der versteckten Bande in die Hände fallen. Als Kind des Landes, wo er kämpft, hat er alle Vortheile auf seiner Seite. In der Hütte, in welcher die vom Marsch, vom Hunger und tausend Entbehrungen erschöpften Soldaten eine gastfreie Aufnahme finden, liegt er in einem unzugänglichen Versteck, wo er jedes Wort ihres Gespräches hört, und hat, wenn die Seinigen in der Ueberzahl sind, alle Gelegenheit, den Feind im Schlafe niederzumachen.

Seine Gewandtheit, sich in jeder Rolle und Verkleidung zu bewegen, ist staunenswerth. So erzählte mir ein befreundeter Officier, wie ihm einst in einer Hütte im Neapolitanischen, wo er einquartiert war, der Hausherr ein reizendes junges Mädchen in der kleidsamen Landestracht mit schlanken Formen, hängenden Zöpfen und sittsam niedergeschlagenen Augen vorstellte:

„Kapitän, dies hier ist mein ältestes Töchterchen, mein liebes kleines Hausmütterchen.“

Das holde Geschöpf entpuppte sich später als derselbe Brigant, zu dessen Verfolgung der Officier ausgesandt war.

In den siebziger Jahren war zu Florenz viel von einem Advokaten F., einem Neapolitaner von Geburt, die Rede, der in den besten Gesellschaftskreisen verkehrte und großen Aufwand machte. Galt es eine officielle Festlichkeit zu veranstalten, so war der Advokat F. einer der Ersten im Komité; fand eine öffentliche Sammlung zu wohlthätigen Zwecken statt, so stand sein Name mit den höchsten Summen verzeichnet. Mit seinen Kollegen lebte er auf dem besten Fuß, da er keine Processe annahm, obwohl er auf der Advokatenliste eingetragen war. Er verlobte sich mit einer jungen Dame aus aristokratischer Familie und bewarb sich um eine Kandidatur bei der nächst bevorstehenden Deputirtenwahl. Um diese Zeit wurde ein Brigadier der Gendarmerie, der viele Jahre auf der Brigantenjagd zugebracht hatte, von den südlichen Provinzen nach Florenz versetzt. Gleich in den ersten Tagen meldete sich dieser Mann bei seinem Vorgesetzten und theilte ihm in größter Aufregung mit, daß ihm soeben der Brigant C. begegnet sei, derselbe, auf den er vor einigen Jahren mit seiner Kompagnie in der Basilicata Jagd gemacht habe und der seitdem in Amerika verschollen sein sollte. Obwohl er jetzt einen schwarzen Vollbart trage, habe er ihn auf den ersten Blick erkannt und sei ihm heimlich bis zur Thür seiner Wohnung in der Via A. gefolgt, wo er erfahren habe, daß dieser Herr seit einigen Jahren in Florenz ansässig sei und den Namen eines Advokaten F. führe.

Der Officier, aus dessen eigenem Mund ich diese Geschichte gehört habe, lachte seinen Untergebenen aus, nannte ihn einen Geisterseher und versicherte ihn, daß der Advokat F. ein ehrenwerther, ihm persönlich wohlbekannter, durchaus unverdächtiger Mann sei. Aber der Brigadier gab sich nicht zufrieden und ließ nicht ab, in seinen Vorgesetzten zu dringen, bis dieser bei der neapolitanischen Behörde Erkundigungen über das Vorleben des Advokaten einzog. Die Auskunft lautete so befriedigend wie möglich: F. stammte aus einer angesehenen Familie, hatte mit großem Erfolg seine Studien absolvirt, und in seiner Vergangenheit gab es nirgends eine dunkle Stelle.

Der Officier ließ den Brigadier rufen und theilte ihm die Nachrichten mit, aber nicht wenig erstaunte er, als der hartnäckige Karabiniere eine Photographie hervorzog, die er unterdessen aus Potenza hatte kommen lassen. Sie stellte den verschollenen Briganten dar und war von überraschender Aehnlichkeit mit dem Advokaten F., nur daß der Brigant bartlos und mehrere Jahre

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_711.jpg&oldid=- (Version vom 21.4.2023)
  1. Süditalienisches Fruchtmaß – etwa zwei Scheffel.