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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

jünger war. Die Bestürzung seines Vorgesetzten benützend, drang der Brigadier demselben die Erlaubniß ab, den Advokaten unter irgend einem Vorwand in seinem Hause aufsuchen zu dürfen, um ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Während er nun dort im Vorzimmer wartete, kam der Diener, welcher ihn anmelden sollte, todesbleich herausgestürzt mit dem Ruf: „Hilfe, Hilfe! Mein Herr hat den Verstand verloren. Soeben ist er zum Fenster hinausgesprungen.“

Der Karabiniere flog die Treppe hinab, konnte aber seiner Beute nicht mehr habhaft werden, und erst in Siena gelang es, den Entsprungenen zu fassen, der sich durch seine unzeitige Flucht selbst verrathen hatte. Seiner Identität überführt, mußte er bekennen, daß er durch Betrug die Papiere des verstorbenen Advokaten F. an sich gebracht hatte, und Florenz erlebte das Schauspiel, einen seiner gefeiertsten Elegants, der durch seine glänzende Erscheinung und seine vollendete Kourtoisie alle Herzen gewonnen hatte, als gemeinen Straßenränder entlarvt, auf die Galere wandern zu sehen.

Unter der Herrschaft Joseph Napoleon’s und Joachim Murat’s stand das Brigantenwesen in seiner höchsten Blüthe, da die legitimistische Partei von Sicilien aus die Verschwörung an langem Faden lenkte und die verfolgten Banden jederzeit auf bourbonischem Gebiet Sicherheit und Unterstützung fanden. Es blieb der Regierung von Neapel nichts übrig, als die Schrecken des „Brigantaggio“ durch noch größere Schrecken zu überbieten. Fürchterliche drakonische Gesetze entstanden, die den häufig nur gezwungenen Helfer und Hehler, ja zuweilen auch den Unschuldigen mit dem Schuldigen trafen. Ein französischer General, Graf Manhès, machte sich vor Allem durch die eiserne Strenge seiner Kriegsführung in jenen Provinzen berüchtigt und berühmt, aber ihm gelang es auch, in wenig Jahren das tausendköpfige Ungeheuer des Briganten-Aufstands auf lange Zeit niederzuwerfen.

In einem sehr interessanten, trefflich geschriebenen Büchlein über den „Brigantaggio“ von Marco Monnier finden sich einige höchst merkwürdige Anekdoten aus den Zeiten dieses Manhès, welche den Stoff zu erschütternden Balladen, eines großen Dichters würdig, enthalten. Aus der Fülle des phantastisch Entsetzlichen will ich nur einige charakteristische Züge hervorheben.

Der berüchtigte Brigantenführer Parafante nahm eines Tags im Walde von Sant’ Eufemia einen Franzosen Namens Astruc fest. Für seine Freilassung verlangte er, daß sämmtliche gefangene Brigantenfamilien in Freiheit gesetzt und überdies mit Lebensmitteln und Kleidung versehen werden sollten. Die Regierung, welche über eine Truppenmacht von 60000 Bajonetten verfügte, nahm diese Bedingungen an und hielt sie treulich. Bald darauf hatte der Brigant Gelegenheit zu beweisen, wie hoch er selbst beschworene Verträge hielt. Ein vollzähliges Bataillon marschirte von Cosenza ab unter der Führung eines höheren Officiers, der den Briganten besonders verhaßt war. Parafante hatte die Kühnheit, ihm durch eine Art Herold anzukündigen: er werde ihn auf der Landstraße, die von Cosenza nach Rogliano führt, und zwar an einem Ort, welcher Lago heißt, umzingeln. Der Officier achtete nicht auf die Warnung, sondern setzte sich in Marsch, aber genau auf dem angegebenen Punkte wurde er von den Briganten überfallen und sein Bataillon zersprengt. Zwei seiner Officiere, Filangieri und Guarasci, fielen mit 25 Mann in die Hände der Briganten, welche ein Kriegsgericht hielten und den Spruch fällten, daß Filangieri und Guarasci von ihren eigenen Soldaten erschossen werden sollten. Unter dieser Bedingung wurde den übrigen Gefangenen das Leben zugesichert.

Alle weigerten sich, aber die beiden Officiere befahlen ihren Leuten zu gehorchen, da sie hofften, auf diese Weise das Leben von 25 Mann zu retten. Nach langer Weigerung und qualvollem Seelenkampf vollzogen die Soldaten endlich den Befehl; Filangieri und Guarasci kommandirten selbst Feuer und fielen. Darauf wurden die 25 Soldaten niedergemetzelt.

Ein anderer Brigantenführer, Namens Bizarro, hatte einige große Hunde zur Menschenjagd dressirt. Nach dem Kampfe hetzte er seine Bestien auf die Fliehenden, und auf diese Weise wurde ein Officier von der Civilgarde zerrissen. Als General Manhès gegen Bizarro marschirte, fiel die ganze Bande mit Ausnahme von zwei Mann von diesem ab, und er gerieth in solche Bedrängniß, daß er sein eigenes neugeborenes Kind an einem Baume zerschmetterte, um nicht durch das Gewimmer desselben verrathen zu werden. Da beschloß die muthige Frau, die den Briganten bis dahin begleitet und ihm unter den Drangsalen der Flucht dieses Kind geboren hatte, sich selbst Recht zu verschaffen; sie wartete, bis er eingeschlafen war, nahm dann sein eigenes Gewehr und tödtete ihn. Hierauf wagte sie es, sich den Behörden von Mileto vorzustellen und den Preis zu verlangen, der auf Bizarro’s Kopf gesetzt worden und der ihr auch richtig ausbezahlt wurde.

Noch eine letzte Anekdote aus jener Zeit theilt der Verfasser des interessanten Büchleins mit, einen Fall, der sich liest wie eine alte Legende und wohl werth ist, der Vergessenheit entrissen zu werden. Es ist ein Geniestreich des Generals Manhès, den ich möglichst mit des Autors eigenen Worten wiedergeben will:

„In den Schluchten von Aspromonte liegen zwischen endlosen, undurchdringlichen Wäldern die Gemeinden von Serra und Mongiana. Dort hausten die ärgsten Briganten, furchtlose Kalabresen, welche die Bataillone überfielen, die den Staatsbeamten zum Geleit nach den Eisenbergwerken von Mongiana dienten.

Eines Tages kündigten diese Briganten den Behörden von Serra an, daß sie bereit seien, sich zu unterwerfen, aber ihre Führer wollten sich nur bei Nacht und in einem bestimmten Hause zur Besprechung einfinden. Zur festgesetzten Stunde begaben sich der Syndikus, der Kommandant der Bürgergarde und der französische Lieutenant Gerard von der Gendarmerie in das bezeichnete Haus. Die vier oder fünf Briganten fanden sich pünktlich ein, aber sie zogen die Unterhandlungen in die Länge, um Zeit zu gewinnen. Unterdessen wurde das Haus von der Bande umstellt und plötzlich überfallen; der Syndikus und die beiden Officiere fielen von den Händen der Briganten.

Wenige Monate zuvor hatten die Briganten in den Bergen zwischen Lauria und Castelluccio einen Transport Uniformen, welcher für das 20. französische Linienregiment bestimmt war, überfallen, die Eskorte geschlagen, den Zug ausgeraubt und triumphirend die erbeuteten Uniformen mit den französischen Epauletten angelegt. Bei diesem Treffen war auch die Frau des Lieutenants Gérard getödtet worden.

Der neue unerwartete Handstreich setzte die ganze Stadt in panischen Schrecken. Sobald Manhès Kunde erhielt, gab er Befehl, das Haus zu zerstören, das die Briganten aufgenommen hatte; aber er fand keinen Gehorsam. Manhès fragte bei dem König an, welche Strafe er über die Stadt verhängen solle, und Murat antwortete: ‚Thun Sie, was Ihnen gut dünkt, aber thun Sie es in Person. Reiten Sie selbst nach Serra, untersuchen Sie und strafen Sie!‘

Manhès flog nach Serra, indem er den Weg durch die Wälder nahm, um schneller an Ort und Stelle zu sein. Erst die Trompeten seiner Eskorte, die plötzlich drohend wie die Gerichtsposaunen am Stadtthor erschollen, kündigten ihn an. Die Bevölkerung war starr vor Schrecken. An den Bäumen, welche den öffentlichen Platz zierten, hingen einige abgehauene Köpfe, roth von zurückgetretenem Blut. Manhès fragte, was das zu bedeuten habe, und erfuhr, daß die betroffenen Familien die Eigenthümer des Hauses, in welchem das Verbrechen geschehen war, enthauptet hatten. Er wandte den Kopf ab, schloß sich in einem Zimmer ein und ließ Niemand mehr vor sich: eine ganze Nacht dachte er über die Bestrafung nach.

Die Frage war schwierig. Man konnte doch nicht ohne weiteres eine ganze fleißige Bevölkerung, welche in den Eisenminen des Landes arbeitete, zusammenschießen lassen. Die Einwohner mußten geschont und dennoch ein fürchterliches Exempel statuirt werden.

Unterdessen brachten die Leute die ganze Nacht damit zu, ihre kostbarste Habe in die Wälder zu schleppen, denn sie glaubten nicht anders, als die ganze Stadt solle dem Erdboden gleich gemacht werden.

Am Morgen ließ Manhès alles Volk auf dem öffentlichen Platz zusammenrufen. Eine große Versammlung fand sich ein; auch nicht ein Bewohner fehlte. Manhès trat unter die Menge und donnerte sie mit solcher Heftigkeit und Strenge an, daß Alles zitterte. Sie hätten sich wie ehrlose Memmen betragen, sagte er, nicht Einer von ihnen sei unschuldig und nicht Einer solle verschont werden. Man denke sich den Schreck. ‚Ich verordne,‘ rief er, ‚daß alle Kirchen von Serra geschlossen werden und daß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 712. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_712.jpg&oldid=- (Version vom 15.11.2022)