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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Ich habe nur drei Wochen Urlaub und muß dieselben zu meiner Erholung gehörig ausnützen, da ich das ganze Jahr über in meinem Berufe sehr angestrengt bin. Ich mache mir deßhalb immer, bevor ich meine Sommerreise antrete, ein Reiseprvgramm mit genau bestimmter Marschroute für jeden Tag, welche unter allen Umständen pünktlich eingehalten wird.“

„Und den Rest Ihres Urlaubs gedenken Sie nun wohl hier zuzubringen? Es ist in der That ein wundervoller Ort, um sich auszuruhen.“

„Sehr schön, allerdings, aber ich beabsichtige noch über das Stilfser Joch, Bormio, Tirano, Poschiavo, über die Bernina, Pontresina, St. Moritz, nach der Maloja, dann zurück über die Albula nach Chur und dem Bodensee zu gehen, unterwegs Ragaz und Pfäffers anzusehen, vom Bodensee aus auf die Meldegg und den Pfaender zu gehen, den Hohentwiel noch mitzunehmen und dann direkt nach Hause zu fahren.“

„Und das Alles bis zum Hohentwiel wollen Sie zu Fuß machen in den – wenn ich richtig rechne – noch etwa zehn Tagen, welche Ihnen verbleiben?“

„Gewiß, ich werde zwar ab und zu einmal eine kleinere Strecke fahren, aber das Meiste wird gegangen, der Gesundheit halber. Leider habe ich mir die Füße aufgelaufen, so daß mir das Gehen etwas schwer wird. Auch leide ich seit einigen Tagen an einer Erkältung, die ich mir auf dem Duxerjoch zugezogen; ich war etwas erhitzt, und es ging ein kalter Wind dort oben.“

Und er begann heftig zu husten.

„Ein sehr schönes Programm, welches Sie sich da gemacht haben – indeß –“

„Schön,“ fiel er mir ins Wort, „und enthält nur vernünftige Touren, keine waghalsigen, unsinnigen Bergbesteigungen, wie sie jetzt zur Manie werden!“

Dabei fixirte er scharf sein Gegenüber, den jungen Mann in Bergsteigerkostüm, welcher aber nur lächelnd die Achseln zuckte und sich an mich wandte: „Sie wollen nach Tisch zu den Gampenhöfen gehen, wie ich höre. Ich werde Sie, wenn es Ihnen angenehm ist, zu einem kaum zehn Minuten von denselben entfernten, etwas höheren Punkt führen, wo Sie eine noch schönere Rundschau auf die Gletscher und Spitzen haben.“

Ich nahm dankend an.

„Werden Sie sich anschließen?“ fragte ich meinen Nachbar, „oder schmerzen Sie Ihre Füße zu sehr?“

„Ich habe leider keine Zeit. Der Blick von den Gampenhöfen soll allerdings sehr schön sein, aber ich muß heute noch nach Franzenshöhe.“ Er sah auf die Uhr. „Es ist jetzt halb drei Uhr, und ich habe noch fünf gute Wegstunden zu machen.“

Während er aufstand, verzerrten sich seine Züge etwas, offenbar in Folge des Schmerzes, welchen ihm seine aufgelaufenen Füße verursachten.

Er bezahlte und entfernte sich.

In Begleitung des jungen Mannes machte ich mich nun auf den Weg. Die gegenseitige Vorstellung hatte ergeben, daß wir engere Landsleute waren, was unserem Verkehr sofort einen ungezwungeneren Charakter gab.

Als wir durch die Wiesen dem nahen Wald zuwanderten, sahen wir noch in der Ferne meinen Tischnachbar, wie er, von Zeit zu Zeit auf seinen Stock sich stützend, einherwankte.

„Der Mann wirft uns nun Unsinn vor,“ bemerkte mein Gefährte, „und rennt mit seinem gebrechlichen Körper wie besessen in der Welt herum! Zu seiner Erholung, wie er sagt, und um sein Programm zu absolviren, welches ihm nicht gestattet, irgendwo, und wäre es am schönsten Punkt der Erde und gäbe es das Interessanteste zu sehen, wie z. B. hier, noch ein paar Stunden zu verweilen, wenn am gleichen Tage noch einige weitere Nummern seines Programmes zu erledigen sind!“

„Ein sonderbarer Erholungsreisender allerdings,“ erwiderte ich. „Der Mann thäte wirklich besser, sich irgendwo an einem schönen Punkte niederzulassen und von dort aus hübsche Ausflüge zu machen. Seine Frau und Kinder werden wenig Freude an ihm erleben, wenn er nach Hause kommt; er wird nervöser zurückkehren als er ging und vielleicht sechs Wochen gebrauchen, um sich von seiner dreiwöchigen Erholungsreise zu erholen!“

„Er steht aber durchaus nicht allein da, ich bin schon vielen Aehnlichen begegnet,“ erwiderte mein Begleiter. „Kennen Sie z. B. den jungen T. aus L.? Nun ja, ich habe ihn neulich im Oetzthal getroffen. Er läuft und klettert unermüdlich, um sein überflüssiges Fett los zu werden, hat auch schon um zehn Pfund in drei Wochen abgenommen und sieht recht elend aus. Wenn er aber dann wieder nach Hause kommt, schmeckt’s ihm um so besser, er ißt für Drei und wird dann binnen vier Wochen seine zehn Pfund, wenn nicht mehr, wieder zugelegt haben.“

„Nun,“ erwiderte ich, „er hat dann doch Platz geschaffen für diese neuen zehn Pfund!“

„Sehen Sie,“ fuhr mein Begleiter lachend fort, „da finde ich sogar die sogenannten Sonntagstouristen, welche zu Wagen mit tadelloser Toilette und lackirten Bergstöcken von einem Hotel ins andere fahren, noch weit vernünftiger, da sie wenigstens ihre Nerven nicht zu Grunde richten, dabei doch von der guten Luft Nutzen ziehen und immerhin manches Schöne sehen.“

„Gewiß! Das Richtige wird aber auch hier in der Mitte liegen. Und was den immer mehr um sich greifenden gefährlichen Bergbesteigungssport betrifft, so sollte in der That Alles geschehen, um denselben in vernünftigen Grenzen zu halten. Die Alpenvereine thun in dieser Richtung ja schon sehr viel, indem sie von Touren bei gefährlichem Wetter, ungünstigen Boden- und Schneeverhältnissen abrathen, auch davor warnen, Ungeübte und solche, deren Kräfte größeren Anstrengungen nicht gewachsen sind, bei schwierigen Besteigungen mitzunehmen. Auch die Führer haben natürlich das gleiche Interesse. Aber wie unser Tischgenosse heute bemerkte, ,die Führer müssen leben, und es ist menschlich, daß sie zuweilen nicht allzu wählerisch sind, damit ihnen ein guter Verdienst nicht entgehe.‘ Die Sachverständigen sollten erwägen, ob hier nicht noch schärfere Kontrolle geübt werden könnte. Anerkannt lebensgefährliche Touren wären wohl am besten überhaupt behördlich zu verbieten.“

„Sie werden mir, einem passionirten Bergsteiger, nicht verübeln, wenn ich in letzterem Punkte anderer Meinnng bin. Aber darin gebe ich Ihnen Recht: man sollte in jeder Weise, besonders auch in der Presse zur größten Vorsicht mahnen.“

„Sagen Sie mal,“ wandte ich mich jetzt an meinen Begleiter, „ist es richtig, daß einzelne unserer Bergbesteigungs-Koryphäen, nachdem sie sämmtliche europäische Alpengebiete erledigt, nunmehr nach Neuseeland, in die Kordilleren, an den Himalaya gereist sind, um dort, wo es noch höhere Spitzen und kolossalere Gletscher giebt, ihrer Manie zu fröhnen?“

„Gewiß! und sogar Führer haben sie dazu aus unseren Alpengebieten mitgenommen, welche natürlich jahrelang vom Hause abwesend sind und hoch bezahlt werden müssen.“

„Verfolgen die Herren dabei auch wissenschaftliche Zwecke?“

„Die Meisten wohl nicht, und ich muß sagen, daß dies schade ist. Aber immerhin – interessant muß es doch sein, und wenn ich die nöthige Zeit und die nöthigen Mittel hätte, wer weiß –“

Ich mußte lächeln. Die Augen meines jungen Begleiters glänzten vor Lust bei dem Gedanken, an einer Schneewand des Himalaya hinauf zu klettern! Wir waren inzwischen an dem bezeichneten Aussichtspunkt angekommen, welcher in der That einen entzückenden Blick auf die in einem Halbkreis gelagerten imposanten Bergriesen gewährte.

„Sehen Sie hier,“ begann mein Begleiter, „die Königsspitze, die Königswand, die großen und kleinen Zebru, hier den Ortler mit der Tabarettaspitze, die Hochleitenspitze, die Kreilspitze, das Königsjoch, das Schrötterhorn, den Passoforno, die Sultenspitze, den Eisseepaß, die Schöntaufspitze, die –“

„Ich danke Ihnen außerordentlich für Ihre Erklärung. Schade nur, daß ich morgen schon wieder Alles vergessen haben werde. Es ist eigenthümlich: ich kann mir wohl die hauptsächlichsten und charakteristischsten Berge merken, aber vergeblich habe ich mich lange geplagt, mir all die Namen der beim Wechsel des Standortes sich immer wieder anders präsentirenden Berghäupter einzuprägen, diese verschiedenen Mondatsch, Madatsch, Pufflatsch, Tollpatsch, Piz Miz, Piz Friz und Piz Blitz – ich habe mich so lange damit gequält, an den schönsten Stellen in meinem Bädeker und auf meinen Karten studirt und mir die Stimmung und den vollen Genuß des Anschauens damit verdorben, daß ich es jetzt aufgegeben habe und mich wohler dabei befinde.“

Wir lachten herzlich, wurden aber Beide sofort wieder ernst, als unartikulirte Laute wie menschliches Stöhnen an unser Ohr drangen. Auch schwere Schritte näherten sich jetzt, und es dauerte nicht lange, so sahen wir durch den Bergwald zwei Männer in Gebirgstracht herankommen, welche sich die Hände gereicht hatten und so gemeinschaftlich ein anscheinend weibliches Wesen trugen, welches die Arme um die Häupter ihrer Träger geschlungen hatte und kläglich stöhnte. Auf dem Kopfe trug sie eine jener wollenen Pudelmützen mit einem Büschel in der Mitte des Deckels, welche man jetzt so häufig bei den Damen im Gebirge sieht, und welche besonders älteren Gesichtern unbeschreiblich komisch stehen.

Um den Kopf war ein weißer Schleier gewunden, welcher bei jeder leichten Verschiebung ein entsetzlich roth und blau geschwollenes Gesicht mit aufgesprungenen Lippen und an den Wangen herabhängende Hautfetzen zeigte. Gefolgt war die Gruppe von einer zweiten, hochgewachsenen Dame, welche in halbmännlichem Kostüm, in kurzen Röcken, eine bunte Schärpe um die Taille, einen Hut mit Gemsbart und Spielhahnfeder auf dem Kopf, in der Hand einen gewaltigen Bergstock mit zahlreich eingebrannten Höhennamen und -Zahlen, stolz einherschritt und der Schwäche ihrer Genossin zu zürnen schien.

„Was war denn das?“ wandte ich mich, nachdem wir der Gruppe eine Zeit lang sprachlos nachgeblickt, an meinen Begleiter, „die arme Dame ist ja furchtbar zugerichtet!“

„Folgen einer Besteigung, vermuthlich der Königsspitze. Es ist nicht selten, daß die Luft auf solcher Höhe Damen und auch Herren in dieser Weise mitspielt. Erst vor einigen Tagen sah ich in Gomagoi zwei Italiener, welche dermaßen geschwollene Gesichter vom Ortler herunterbrachten, daß sie nicht einmal mehr Nahrung zu sich nehmen konnten.“

„Ist das nun nicht Tollheit?“ rief ich aus. „Freiwillig, zu seinem Vergnügen, sich so zurichten zu lassen!?“

„Für schwächliche Personen ist es allerdings ein sehr thörichtes Unterfangen,“ erwiderte mein Gefährte, „Eines schickt sich eben nicht für Alle! Haben Sie die zweite Dame gesehen? Dieser hat es offenbar nicht im Mindesten geschadet. Sie schritt einher, als wollte sie heute noch eine zweite Besteigung unternehmen! – Doch hier sind wir an der Stelle, wo ich mich von Ihnen verabschieden muß.“

Ich dankte dem freundlichen jungen Manne für seine Begleitung und kehrte allein nach St. Gertraud zurück, wo ich nach dem Marsche, den ich im Laufe des Tages gemacht, bald das Bett aufsuchte und in einen festen, aber nicht traumlosen Schlaf verfiel. Mir träumte, ich säße am Fuße eines himmelhohen Berges, neben mir die Wiege unseres Jüngsten, unseres kleinen Hänschens, welche ich schaukelte, während hoch oben auf dem Berge meine gute Frau, die jetzt eigentlich doch zu Hause Scheuerfest halten sollte, mit einem Gletscherbeil Stufen ins Eis hieb. Mich schauderte, da ich jeden Augenblick fürchtete, sie möchte in die Tiefe stürzen!

Plötzlich kam sie wie auf Adlerflügeln heruntergesaust und stand vor mir in seltsamer Gewandung, in kurzem Röckchen, hohen Stiefeln, eine Art von Helm auf dem Kopf, einen Speer in der Hand – halb Walküre, halb Regimentstochter.

Den Speer schleuderte sie mir jetzt vor die Füße mit den Worten: „Hier, Schwächling, brenne wieder dreitausend Meter ein auf den Piz Blitz!“

Ich erwachte von dem Geräusch des geschleuderten Bergstocks, wie ich glaubte, hatte aber in der Erregung nur den Leuchter vom Nachttische auf den Boden geworfen. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, und ich dankte Gott im Stillen, daß ich nur geträumt!


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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_715.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)