Seite:Die Gartenlaube (1886) 790.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Nieboom die Lootsenstelle neben mir auf diesem elenden Sandhaufen gegeben hat, ist ein Fehler in der Rechnung, der mit durchgeschleppt werden muß.“

Der kleine Ede, welcher auf der Mutter Geheiß dem ankommenden Oheim zu Ehren seine deutsche Flagge an einem Pfahl aufgehißt hatte, die nun zu des Knaben Ergötzen im Winde klatschte und flatterte, kam gelaufen, um dem Oheim, der ja wieder gut und freundlich mit ihm sein würde, guten Tag zu sagen. Wie dieser aber, die Mütze tief in die Augen gedrückt, dem Vater die Hand weigerte, rief der Knabe: „Onkel, willst Du doch grimmig bleiben?“ Und Karle sagte: „Komm, Ede, wir wollen zur Mutter gehen!“ während hinter ihnen her Oluf die Faust ballte.

Das blieb so. Der blühende Geranienstock, welchen Weika zum stillen Willkommen in Oluf’s Stube gestellt hatte, ließ nach wenigen Tagen die Blätter hängen, weil ihn durstete. Nach kurzer Zeit stand er verdorrt. Wenn die Brüder sich begegneten, drückten sie die Mützen in die Stirn und setzten fester die Füße auf. Nur Weika ward nicht müde, durch tausend kleine Fürsorglichkeiten, wie sie nur dem guten Frauenherzen gelingen, das Eis zu brechen. Ein freundlicher Blick, ein Gruß, eine mild helfende Handbewegung können so viel erreichen. Aber, ach, der Bau eines so närrischen Dinges wie die Insel der Glückseligkeit ist eine schwere Sache! Zwar versuchte es Weika immer wieder, dazu den Grund zu legen in der Brust des großen blonden Mannes, der da Oluf hieß und der Bruder von Karle Nieboom war. Indeß kam sie nicht über das Grundlegen hinaus; wahrscheinlich weil der Baugrund nichts taugte.

Abwechselnd gingen die Brüder ihrem Berufe nach. Der Schiffsverkehr in den Gewässern um die Insel ist nur schwach und beschränkt sich hauptsächlich auf das, was den einige Meilen ostwärts gelegenen kleinen Hafen angeht. Darum auch genügten zwei Lootsen auf der Station; die mußten aber „stramm“ sein, um allzeit und bei jedem Wetter, jedem Ereigniß selbständig handeln zu können. Der Doppelposten war sehr gesucht, denn er war besser bezahlt, als jene an belebten Stationen; man sah darin eine besondere Vergünstigung, daß die Brüder Nieboom ihn erhielten.

Nach stillschweigend getroffener Uebereinkunft wechselten die Brüder im Berufe ab. Oluf ging zuerst hinaus, als das erste Schiff durch Flaggensignal Lootsenhilfe forderte. Beim zweiten Ruf ging Karle. Für den Fall, daß beide Lootsen unterwegs waren, hatte Weika die Anweisung, durch ein bestimmtes Signal dem fordernden Schiffe zu sagen: kein Lootse auf der Station.

Wieder hatte Oluf ein schwedisches Schiff geleitet, und bei schaurigem, nassem Wetter kam er heim. Das Wasser rann vom Südwester herab und troff aus dem langen Barte. Oluf schauderte. Trotz des guten Grogs, dem er reichlich auf dem Schwedenschiff zugesprochen, fühlte er sich frostig und mürrisch. Er schüttelte sich, wenn er an sein kaltes unwirthliches Zimmer dachte. Ueber der Insel hingen tiefgehende Wolken wie ein Grabmantel; wo seine Füße hintraten, sammelte sich das Wasser.

Aber was war das? Statt der markdurchschauernden Kälte unbewohnter Mauern wallte in Oluf’s Zimmer eine köstliche Wärme, und ein lieblich Gesumm vom Ofen her, bald in hohen, bald in tiefen Tönen, begleitet von süßfestlichem Dufte, legte sich schmeichelnd um Nase und Ohren des fröstelnden Mannes, und – wahrlich – neben der mit dürftigem Immergrünkränzlein geschmückten Tasse lag ein Kuchen! Vor fünf Minuten erst konnte er der heißen Pfanne entnommen sein, denn er dampfte und duftete.

Ein schrilles Gelächter trat auf Oluf’s Lippen. Heut war ja sein Geburtstag! Er hatte ihn vergessen. Auch „Andere“ sollten ihn vergessen!

Oluf ging in Weika’s Küche – seine eigene Küche war kalt, hier konnte der Kuchen nicht gebacken worden sein – und sagte: „Frau Schwägerin, ich verbitte mir solche Eingriffe in mein Hauswesen. Soll’s in Frieden gehen, dann ist da die Grenze zwischen uns. Verstanden?“ Er hatte mit dem Fuß einen Strich in der Mitte des Flurs angedeutet. Dröhnend flog die Küchenthür ins Schloß, daß Töpfe und Pfannen rasselnd an einander schlugen.

„Oluf! Oluf!“ schrie mit Entsetzen das junge Weib und sank dann, das Gesicht in der Schürze bergend, weinend auf einen Schemel nieder.

Drüben, beim Gesumm des Theekessels, beim Knistern der Flamme setzte sich Oluf nieder und machte eine Eingabe an den Herrn Regierungspräsidenten, es möge ihm verstattet werden, auf seine Kosten die Fenster seiner Dienstwohnung nach Süden zu verlegen und daselbst auch einen besonderen Hauseingang anzulegen, da der Bittsteller zur Erhaltung seiner Gesundheit des Sonnenlichtes dringend bedürfe.

Die Herren von der Regierung schüttelten allerdings die Köpfe und konnten nicht begreifen, wo es bei dem hünenhaften Lootsen an der Gesundheit fehlen sollte. Aber da Oluf einer der kecksten Schiffer, einer der Tüchtigsten in seinem Beruf war, so wurde sein Gesuch bewilligt.

Oluf baute, und damit war die Trennung bis auf den Grund vollzogen. Mancher Tag ging hin, ohne daß die nach Norden Schauenden etwas von dem einsamen Manne, der nach Süden blickte, gewahrten. Nun herrschte Ruhe auf der Insel, aber jene Kirchhofsruhe, unter welcher das Bischen Himmelslicht Liebe vollends erlöschen muß.

Und doch wohnten sie unter einem Dache, und ihre Berufspflicht rief sie tagtäglich zum Wohlthun, Helfen, Schützen gegen Sturm und Wind aufs ungestüme Meer hinaus. Mit allen Schrecken der entfesselten Naturdämonen nahmen die Brüder Nieboom es auf; aber mit den Unholden im eigenen Busen? – das war etwas Anderes!

Eines Tages forderte ein Schiff Lootsenhilfe. An Karle war die Reihe. Von Nordost kam die See in schweren Wogen und machte es dem einzelnen Manne schwierig, allein mit dem Boot durch den Seegang an Bord des Schiffes zu gelangen. Karle wollte dennoch allein gehen, denn er mochte dem Bruder kein bittendes Wort gönnen. Wer weiß, welche höhnende Antwort er erhalten hätte!

Mit flinken Fingern nähte Weika noch die Bänder an Karle’s Südwester fest, daß der treibende Wind ihn nicht entführen könne; ein Tüchlein knüpfte sie über das eigene Haar und dann begleiteten sie und das Kind Karle zum Strande. Schon war das Boot flott gemacht, die heranrollende Brandung stieß es in rhythmischen Pausen auf den Sand. Ede, als echtes Seemannskind auf der salzigen Fluth sich heimisch fühlend, machte sich nach Knabenart mit Wichtigkeit im Boote zu schaffen. Der Lootse aber ließ seine Augen über das unruhige Meer schweifen, und darnach umfaßte er das Inselchen, das einsame Haus, sein Weib und die graue, freudlose Himmelsdecke mit einem einzigen Blick seiner ernsten blauen Augen. Es hielt ihn nicht im Boot. Nochmals sprang er aufs Trockene, faßte Weika in seine Arme und küßte ihr voll Ungestüm Mund und Augen, wieder und wieder.

Ganz erschrocken blickte Weika zu Karle empor, der unter freiem Gotteshimmel einem Gefühlssturm unterlag, und sie las in dem braunen, bärtigen Antlitz nur Liebe, Liebe, aber auch ein wenig Sorge. Sie lächelte glückselig. Für wenige Sekunden ward die graue Insel zum Paradiese, denn auch Ede sprang nun herbei und verlangte seinen Theil an der Zärtlichkeitsverschwendung, und Karle küßte auch sein Kind.

Obgleich Karle und Weika sich unbeachtet wähnten, hatte dennoch ein Augenpaar die Scene am Strande erspäht, ein wildes, neidisches Augenpaar.

Oluf war sinnend in seinem Zimmer auf und ab gegangen. Ob Karle wohl nicht kommen würde mit der Bitte: Bruder, geh mit? Gerade heut befand sich Oluf in der Verfassung, daß er auf ein gutes Wort hin mitgegangen wäre. Aber das gute Wort mußte gesprochen werden. Natürlich! Eigentlich war es gar keine Möglichkeit, daß bei der See ein Mann allein an Bord kommen konnte. Hm, ob Karle ’s wagt? will doch schauen. Nur um den Giebel ’rum. ’s kann ja von ungefähr sein, daß Oluf dort geht! Wenn Karle dann was will, kann er ja reden.

Eben wollte Oluf um den Hausgiebel biegen, als er die Thür im Norden knarren hörte. Er hielt zurück. Er sah den Bruder mit Weib und Kind heraustreten und zum Strande gehen.

Er sah die Abschiedsscene und – fort waren die milden Geister der Verträglichkeit, der Brüderlichkeit, die eben ganz schüchtern an dies harte Herz gepocht. Wieder streckten Groll und Haß ihre Häupter empor. Trotzig blickte Oluf zum Himmel auf, aus dessen jagenden Wolken die ersten Schneeflocken zur todten Erde wirbelten. Der Bruder fuhr ab. Weib und Kind sandten ihm einen Abschiedsgruß nach und wateten durch den feuchten Sand dem Hause zu.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_790.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)