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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Was sagtest Du? Ich verstand Dich nicht.“

Er ließ sie aus seinen Armen und richtete sich empor.

„Ich habe Dir noch etwas verschwiegen Hertha, absichtlich verschwiegen. Ich wollte erproben, ob Du mir angehören würdest, auch wenn ich Dir nichts Anderes war, als der Sohn eines fremden heimatlosen Abenteurers. Ich bin Dir und den Deinen nicht fremd, und auch mein Vater war es nicht. Hast Du nie von einem zweiten Kinde des Generals, von einer Tochter gehört?“

„Gewiß! Louise Steinrück! Sie war sogar, wie ich glaube, ursprünglich meinem Vater zur Gemahlin bestimmt; aber sie starb ja so jung, kaum achtzehn Jahr alt.“

„Also Du hast von ihr nur als von einer Todten gehört? Ich dachte es mir! Ja, sie starb, für ihren Vater, ihre Familie, die sie verstießen, als sie dem Manne ihrer Wahl folgte – es war meine Mutter!“

Die junge Gräfin fuhr auf in grenzenloser Ueberraschung.

„Ist es möglich? Du ein Steinrück?“

„Ein Rodenberg, Hertha! Vergiß das nicht, ich habe keinen Theil an dem Namen meiner Mutter und an ihrer Familie, will keinen haben.“

„Und Dein Großvater? Weiß er –?“

„Ja, aber er sieht in mir nur den Sohn der verstoßenen, verleugneten Tochter, deren Name noch heute nicht vor ihm genannt werden darf, und wenn ich Dich vollends seinem Erben, seinem Raoul entreiße, wird er das Aeußerste gegen uns aufbieten. Gleichviel, Du hast Dich mir zu eigen gegeben, jetzt werde ich mein Glück zu wahren wissen!“

Er stand in der That da, als sei er bereit, der ganzen Welt Trotz zu bieten. Dann bot er der Geliebten die Hand, um sie zurückzuführen in diese Welt, die so fern lag, da unten in der Tiefe, noch umsponnen von Nebelduft und Dämmerung. Hier oben aber waren die Schneegipfel schon in Purpurgluth getaucht, der ganze östliche Himmel leuchtete und flammte; jetzt blitzte es dort auf, fast wie das Zucken eines Schwertes, und dann stieg langsam, gluthroth die Sonne empor. Im Sturme geboren, grüßte das Licht des neuen Tages die Erde – im flammenden Morgenstrahle stieg Sankt Michael nieder von der Adlerwand!


Die Gräfin Steinrück war allerdings sehr bedenklich erkrankt, so bedenklich, daß man ihr auf den Rath des Arztes vollständig die Gefahr verschwieg, in der ihre Tochter geschwebt hatte. Hertha, die im Laufe des nächsten Tages eingetroffen war, mußte der Mutter erzählen, daß der Ausbruch des Sturmes sie so lange in Sankt Michael zurückgehalten hatte, und so erfuhr die Kranke nicht einmal das Zusammentreffen mit dem Hauptmann Rodenberg.

Es war ungefähr eine Woche später. In einem der Fremdenzimmer von Schloß Steinrück saß der Pfarrer von Sankt Michael bei seinem Bruder, der hier eingetroffen war und ihm seine Ankunft gemeldet hatte. Das Gespräch der Beiden mußte ernster Natur gewesen sein; das sah man an ihren Mienen, und soeben sagte Professor Wehlau:

„Ich kann Dir leider keine Hoffnung geben. Die Wendung, die das langjährige Leiden der Gräfin genommen hat, ist eine tödliche. Ihr Zustand ist ja glücklicherweise schmerzlos, und sie hat keine Ahnung von der Gefahr desselben, aber er ist auch hoffnungslos. Ich gebe ihr nur noch vier bis sechs Wochen; sie wird die Vermählung ihrer Tochter nicht mehr erleben.“

„Ich habe es gefürchtet, als ich die Gräfin wiedersah,“ entgegnete Valentin. „Jedenfalls ist es mir eine Beruhigung, daß Du gekommen bist. Ich weiß, Du hast ein Opfer gebracht mit dieser Reise, Du hast Dich mitten aus Deinen Vorlesungen gerissen und behandelst ja sonst überhaupt keine Krauken mehr.“

Wehlau zuckte die Achseln.

„Was sollte ich denn machen! Erstlich ist mir die Gräfin keine Fremde; meine Beziehungen zu der Steinrück’schen Familie sind ja fast so alt wie die Deinigen, und dann hat mir auch Michael, der die Nachricht von der Erkrankung mitbrachte, keine Ruhe gelassen. Er drängte so lange, bis ich mich zur Reise entschloß. Ich fand das sonderbar; er kennt die Gräfin doch nur in gesellschaftlicher Hinsicht; aber er ließ nicht nach, bis er mein Versprechen hatte.“

Der Pfarrer war aufmerksam geworden bei den letzten Worten, doch er äußerte nichts darauf, sondern fragte nur:

„Du hast Hans mitgebracht? Ich werde ihn doch sehen?“

„Gewiß, er kommt in den nächsten Tagen zu Dir. Selbstverständlich ist er drüben in Tannberg, bei unseren Verwandten, während ich der Gräfin wegen im Schlosse bleibe. Der Junge ist ganz unberechenbar in seinen Launen! Schon im April sprach er davon, daß er wieder in die Berge müsse, um Studien zu machen, bis ich ihm zu Gemüth führte, daß das eine Verrücktheit sei, da die Berge noch im Schnee lagen. Jetzt, als er von meiner Abreise hört, fällt es ihm auf einmal ein, daß er sich in Tannberg ,erholen’ müsse. Wahrscheinlich von der Bewunderung und all dem sonstigen Unsinn, womit man ihm in der letzten Zeit den Kopf verdreht hat, und das wird meine Schwägerin natürlich mit frischen Kräften fortsetzen.“

„Du hast ihn aber trotzdem mitgenommen?“

„Mitgenommen?“ spottete Wehlau. „Als ob ich dabei noch etwas zu sagen hätte! Der Herr Künstler ist ja selbständig geworden, und ich darf bei Leibe dem Genie keine Fesseln mehr anlegen, auch wenn es die allerverrücktesten Einfälle hat. Genug, er ging mit und kommt täglich mit der größten Regelmäßigkeit von Tannberg herüber, um mich zu besuchen und zu sehen, wie es hier steht. Ich werde nicht klug aus dem Jungen, so wenig wie aus dem Michael! Sie kümmern sich um die kranke Gräfin mit einem Eifer, als ob es ihre Mutter wäre. Uebrigens ist sie in guten Händen bei dem hiesigen Arzte und bei ihrer jungen Pflegerin – wie heißt sie doch?“

„Gerlinde von Eberstein.“

„Ganz recht! Ein seltsames kleines Ding, das kaum den Mund öffnet und ganz unglaubliche Knixe macht. Aber als Pflegerin ist sie vorzüglich, mit ihrem sanften, stillen Wesen. Gräfin Hertha ist viel zu erregt und angstvoll am Krankenbett.“

Sie wurden unterbrochen. Der Arzt war gekommen und wünschte seinen berühmten Kollegen zu sprechen. Dieser erhob sich und ging hinaus, aber der Diener brachte noch eine zweite Meldung. Auch der Förster Wolfram war da und bat, mit Hochwürden reden zu dürfen. Valentin ließ ihn eintreten und wandte sich freundlich zu ihm.

„Ihr seid noch hier, Wolfram? Ich glaubte, Ihr wäret schon nach Eurer Försterei zurückgekehrt.“

„Ich geh’ morgen nach Haus,“ versetzte der Förster. „Mein Geschäft in Tannberg ist jetzt erst zu End’ gebracht; da wollt’ ich doch vorher noch einmal anfragen, wie es mit der gnädigen Gräfin steht. Die Diener sagen, es ginge gar nicht gut, aber ich hörte von ihnen, daß Sie im Schloß wären, Hochwürden, und da dacht’ ich –“ er stockte, ganz wider seine Gewohnheit, und schien nach Worten zu suchen.

„Ihr wolltet mir Lebewohl sagen,“ fiel Valentin ein.

„Ja, das auch, aber eigentlich ist’s etwas Anderes. Hochwürden, ich hab’ die Sache nun acht Tage lang mit mir herumgetragen und zu keiner Menschenseel’ davon gesprochen, aber jetzt halt’ ich es nimmer aus – Ihnen muß ich es sagen!“

„Nun, so sprecht, was ist es denn?“ Wolfram warf einen Blick nach der Thür, ob sie auch geschlossen sei; dann trat er näher und dämpfte die Stimme.

„Der Michel – den Hauptmann Rodenberg mein’ ich – ich glaube, der holt sich nächstens die Sonne vom Himmel herunter, wenn es ihm grad’ einfällt. Was er jetzt angestiftet hat, ist nicht viel anders. Das wird einen Lärm geben in der hochgräflichen Familie! Seine Excellenz der General wird mit einem Donnerwetter dreinfahren, daß die Berge zittern, und dann wird der Hauptmann wieder auf ihn losgehen, wie damals; dem traue ich jetzt Alles zu.“

„Ihr sprecht von Michael?“ fragte Valentin befremdet. „Er ist ja aber längst wieder in der Stadt; mein Bruder hat mir soeben einen Gruß von ihm gebracht.“

„Kann schon sein. Ich sprech’ auch nur von der Sturmnacht, in der wir die junge Gräfin suchten. Ich war mit dem Diener, den ich unterwegs aufgegriffen hatte, bei der Bergkapelle angelangt, wo wir uns treffen wollten. Da ließ ich den Mann zurück, damit doch Einer da sei, um Auskunft zu geben, und ich ging noch ein Stück nach der Adlerwand zu, gerade beim Morgengrauen. Ich dacht’ irgend eine Spur zu finden; denn ich glaubte eigentlich nicht, daß der Hauptmann oder die Gräfin lebendig zurückkommen würde. Aber nach einer Weile fand ich sie alle Beide, an einem Felsen, und sie waren sehr lebendig – sie küßten sich!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_815.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2022)