Seite:Die Gartenlaube (1886) 816.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Wie?“ rief der Pfarrer zurückweichend.

„Ja, darüber entsetzen Sie sich, Hochwürden! Ich hab’ es auch gethan, aber ich hab’ es gesehen mit meinen beiden leiblichen Augen. Er, der Michel, hatte die junge Gräfin im Arm und küßte sie – da muß doch die Welt untergehen!“

Valentin hätte wahrscheinlich eine ähnliche Empfindung gehabt, wenn man ihm vor vierundzwanzig Stunden eine derartige Eröffnung gemacht hätte; seit gestern Abend war er einigermaßen darauf vorbereitet und sah mehr bekümmert als überrascht aus, während er leise vor sich hin sagte: „Also ist es doch zu einer Erklärung gekommen; ich habe es gefürchtet! – Und die Gräfin?“

„Nun, der Gräfin schien die Sache ganz pläsirlich zu sein, denn sie sträubte sich nicht im Mindesten. Die Beiden sahen und hörten mich nicht, aber ich hörte es ganz deutlich, wie er sagte: ‚Meine Hertha!’ Als ob sie ihm von Rechts wegen gehörte, und sie ist doch die Braut des jungen Grafen! Jetzt frag’ ich Sie, Hochwürden, was soll aus der Geschicht’ werden?“

„Das weiß der Himmel!“ sagte Valentin mit einem tiefen Seufzer. „Es wird einen schweren Kampf in der Familie geben.“

„Natürlich,“ stimmte der Förster bei. „Ich sag’ es ja, der Bub’ hat immer nur Unheil angerichtet! Jetzt macht er es grad’ so. Der ist nicht mit einem Kuß zufrieden, der ist im Stande und will die Reichsgräfin aus dem erlauchten Geschlecht mit all ihren Ahnen und Millionen heirathen! Und wenn man sie ihm nicht geben will, dann schießt er den jungen Grafen über den Haufen, schlägt sich mit dem General und der ganzen hochgräflichen Familie herum, schlägt Alles kurz und klein, holt sich ,seine Hertha’ aus dem Schlosse, wie er sie sich schon von der Adlerwand geholt hat, und heirathet sie! – Geben Sie Acht, so kommt es!“

Wolfram war augenscheinlich in das andere Extrem gerathen und zu einer schrankenlosen Bewunderung des einst so verhöhnten Pflegesohnes übergegangen, die er allerdings noch hinter einem grollenden Tone verbarg. Er war überzeugt, Michael könne jetzt schlechterdings Alles erreichen, es sogar mit dem General aufnehmen, und das war in seinen Augen die ungeheuerste aller Leistungen.

Den Pfarrer dagegen hatte diese Eröffnung in schwere Sorge gestürzt; was er seit gestern Abend gefürchtet, war nur zu schnell eingetroffen, und doch konnte er für den Augenblick nichts thun als schweigen und auch den Förster dazu veranlassen. Das Letztere bot keine Schwierigkeit. Wolfram schien die Sache als eine Art Beichte zu betrachten und gab bereitwillig das geforderte Versprechen. Aber als er gegangen war, faltete der Greis die Hände und sagte schmerzlich: „Das giebt einen Kampf auf Leben und Tod mit dem General! Und wenn diese beiden gleich eisernen und unbeugsamen Naturen sich erst feindlich gegenüberstehen – mein Gott, was soll daraus werden?“


Es war am Nachmittage desselben Tages. Valentin war bereits wieder auf dem Rückwege nach Sankt Michael, und der Professor befand sich in seinem Zimmer und erledigte einige Briefe, die man ihm nachgesandt hatte, als ihm der Freiherr von Eberstein gemeldet wurde.

Der alte Herr war gekommen, um seine Tochter zu sehen und sich Nachrichten über das Befinden der Gräfin zu holen, und da er von der Ankunft des berühmten Professors aus der Hauptstadt gehört hatte, wollte er die Gelegenheit benutzen und diesen auch über sein eigenes Leiden zu Rathe ziehen. Wehlau ahnte so etwas, als er die hüstelnde gebrechliche Gestalt eintreten sah, und nahm sofort eine ablehnende Haltung an; denn er war keineswegs geneigt, die Ausnahme, die er mit der Gräfin machte, auf Fremde auszudehnen.

„Udo, Freiherr von Eberstein-Ortenau auf Ebersburg!“ sagte der alte Herr, mit steifer, feierlicher Würde den Kopf neigend.

„Ist mir bereits gemeldet,“ versetzte Wehlau trocken, indem er dem Gaste einen Stuhl hinschob. „Womit kann ich dienen?“

Der Freiherr ließ sich nieder, etwas verdutzt über diesen Empfang; sein Name und Titel schienen hier gar keine Wirkung zu üben.

„Ich habe gehört, daß Sie herberufen sind, um die Frau Gräfin Steinrück zu behandeln,“ hob er wieder an, „und wünschte ausführlich mit Ihnen darüber zu sprechen.“

Der Professor ließ einen brummenden Laut hören. Er liebte es überhaupt nicht, mit Laien über Krankheitsfälle zu sprechen, und dachte nicht daran, die Auseinandersetzung, die er allerdings seinem Bruder gegeben hatte, hier zu wiederholen. Eberstein aber, der jenen Laut für Zustimmung nahm, fuhr fort: „Zugleich möchte ich auch Ihren Rath wegen meines eigenen Leidens in Anspruch uehmen, das mich schon jahrelang –“

„Bedaure sehr,“ fiel ihm Wehlau schroff in die Rede. „Ich übe keine ärztliche Praxis mehr aus und bin überhaupt nicht ,herberufen’. Wenn ich an das Krankenbett der Frau Gräfin eilte, so ist das eine Freundschaftssache; die Behandlung Fremder übernehme ich nicht.“

Der Freiherr sah höchst erstaunt und entrüstet den bürgerlichen Professor an, der die ärztliche Behandlung einer Gräfin Steinrück Freundschaftssache nannte und die Behandlung eines Eberstein überhaupt ablehnte. Er hatte in seiner weltfernen Einsamkeit keine Ahnung von der äußeren Lebensstellung des berühmten Forschers; aber er hatte früher einmal gehört, daß die Gelehrten eine ganz eigene Klasse von Menschen seien, lauter Sonderlinge, gänzlich unbekannt mit den Formen der guten Gesellschaft und in Folge dessen sämmtlich grob und rücksichtslos. Er verzieh dem Professor daher großmüthig diese Standeseigenthümlichkeit, und da er seinen Rath und Beistaud doch nun einmal brauchte, beschloß er, ihm vor allen Dingen klar zu machen, wer eigentlich vor ihm sitze.

„Ich bin der gräflichen Familie eng befreundet,“ begann er wieder. „Wir sind wohl die beiden ältesten Geschlechter im Lande; das meinige ist allerdings zweihundert Jahre älter, es stammt aus dem zehnten Jahrhundert.“

„Das ist sehr merkwürdig,“ sagte Wehlau, der durchaus nicht begriff, was das zehnte Jahrhundert hier zu thun hatte.

„Es ist eine Thatsache!“ erklärte Eberstein, „eine historisch beglaubigte Thatsache. Graf Michael, der Ahnherr der Steinrück, taucht erst in den Kreuzzügen aus dem Dunkel der Sage auf, während Udo von Eberstein –“ und damit tauchte er selbst in die Tiefen seiner Hauschronik und begann einen ähnlichen Sermon, wie jener, mit dem Gerlinde auf der Ebersburg den jungen Gast so erschreckt hatte. Es wimmelte darin von Ritternamen und Fehden und von all dem glorreichen Mord und Todtschlag des Mittelalters, so weit das Eberstein’sche Geschlecht daran betheiligt war.

Der Professor schien anfangs zu überlegen, wie er den unbequemen Besuch am schnellsten zur Thür hinausbefördern könne; allmählich aber wurde er aufmerksam; er rückte sogar seinen Stuhl näher und sah dem alten Herrn minutenlang starr und unverwandt in die Augen; plötzlich aber unterbrach er ihn mitten in der Rede und ergriff seine Hand.

„Erlauben Sie – Ihr Zustand interessirt mich – merkwürdig, der Puls geht ganz normal!“

Der Freiherr triumphirte: ja freilich, jetzt wußte dieser unhöfliche Professor, daß er den Sprossen eines alten höchst erlauchten Geschlechtes vor sich hatte, und ließ sich schleunigst zu der erst verweigerten Behandlung herbei!

„Sie finden meinen Puls normal?“ fragte er. „Das freut mich, aber Sie werden mir trotzdem doch einige Verordnungen –“

„Eisumschläge auf den Kopf, mindestens vierundzwanzig Stunden lang,“ sagte Wehlau lakonisch.

„Um des Himmelswillen – bei meiner Gicht!“ rief der alte Herr entsetzt. „Ich kann nur Wärme vertragen, und wenn Sie meinen Zustand eingehend untersuchen, so –“

„Ist gar nicht nöthig! Was Ihnen fehlt, weiß ich schon!“ erklärte der Professor.

Die Achtung des Freiherrn stieg. Das mußte allerdings ein bedeutender Arzt sein, der durch bloßes Anschauen den Zustand des Patienten erkannte, ohne auch nur eine Frage an ihn zu richten.

„Die Gräfin hat mir allerdings Ihren Scharfblick gerühmt,“ entgegnete er, „aber ich möchte noch eine Frage an Sie richten, Herr Professor Wehlau. Ihr Name fällt mir auf. Stehen Sie vielleicht in irgend einer Beziehung zu den Wehlau Wehlenberg auf Forschungstein?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_816.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2022)