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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

wohl kaum zu erwarten, da, während die armen deutschen Familien sich fast ausschließlich auf das Quartier La Villette koncentriren, die wohlhabenden über die ganze ungeheure Stadt zerstreut sind, und es oft unmöglich ist, die Kinder so weit zur Schule zu schicken.

„Wir haben nämlich,“ erklärte mir eine der Lehrerinnen, „noch keinen Wagen, der, wie das bei anderen Instituten der Fall, die Kinder von Hause abholt und Abends – das Frühstück mitten am Tage wird in der Schule eingenommen – zurückbringt.“

Vielleicht ist das ziemlich hohe Schulgeld: 200 bis 250 Franken für das Jahr, auch Manchem ein Hinderniß.

Die neueste deutsche Anstalt in Paris ist das im Februar dieses Jahres eröffnete und unter dem Protektorat unserer Kronprinzessin stehende „Heim für deutsche Erzieherinnen und Dienstmädchen“. Es war ein heißer Tag, als ich mich vom Louvre aus aufmachte, um nach Batignolles zu fahren. Die Gegend sei etwas abgelegen, hatte man mir gesagt; allein der Omnibus brachte mich in etwa 20 Minuten dorthin, und wie wohl that nach dem Lärm und Gedränge der westlichen Stadt hier die verhältnißmäßige Ruhe und Stille! Da konnte man doch den Straßendamm überschreiten, ohne vorher sein Leben zu versichern, und ganz in der Nähe winkten die grünen Bäume und duftigen Blumenbeete des Parks von Batignolles, zu dem Jedermann freien Eintritt hat. Wie nett, dachte ich, können die Damen des „Heims“ dort während der kühlen Morgenstunden lesen und arbeiten!

Einen wahrhaft anheimelnden Eindruck aber macht das Haus – Ecke der Rue Brochant und Rue Nollet. Ein Ueberbleibsel aus früherer Zeit, wo dieser Stadttheil außerhalb Paris lag und gewissermaßen als Landaufenthalt betrachtet wurde, zeichnet es sich mit seiner mäßigen Höhe, seinem von einem hübschen Gitter eingefaßten und von Ulmen beschatteten Vorhof und seinen grünen, Kühlung verheißenden Jalousien vortheilhaft von den himmelhohen, kahlen, kasernenartigen Gebäuden der Straße ab. Lebhaft konnte ich mir denken, mit welchem Wohlgefühl eine arme abgehetzte, stellensuchende Deutsche, von den heißen, staubigen, lärm- und menschengefüllten Boulevards kommend, diesen schattigen Vorplatz, diese stillen, kühlen, zierlich eingerichteten Zimmer betreten muß, wie freundlich das „Guten Morgen“ des Dienstmädchens, welches uns die Thür öffnete, ihr Ohr berührt, wie sie unter den Genossinnen ihr Herz ausschütten kann und Trost, vielleicht Hilfe erwarten darf. Ja, ein Heim ist es wirklich, mit seiner Sauberkeit und Ordnung, mit seinem Versammlungssaal, den Blumen und deutsche Sprüche schmücken, den behaglichen, netten Schlafzimmern und der treuen Fürsorge seiner Leiterin. In der kurzen Zeit seines Bestehens haben schon über 40 Deutsche von hier aus Stellen gefunden; allerdings mehr Dienstmädchen (Bonnen) als Erzieherinnen. Für diese letzteren, sagte mir die Vorsteherin, seien gute Empfehlungen nützlicher, als das abgelegte Lehrerin-Examen.

Die Lage des Hauses an einer Straßenecke ist sehr günstig für den doppelten Zweck desselben, indem dadurch das Heim für die Dienstmädchen von dem der Erzieherinnen getrennt ist. Natürlich sind auch die Aufnahmebedingungen verschieden. Die Erzieherinnen und Lehrerinnen, die sich durch ihre Papiere ausweisen müssen, haben für Kost und Logis 76 bis 90 Franken monatlich, 22½ bis 25 Franken wöchentlich zu zahlen, je nach den Zimmern; während der Preis für die Dienstmädchen für Wohnung und Kost wöchentlich 10 Franken beträgt, wenn sie ein Bett im Schlafsaal einnehmen, 14 Franken, wenn sie ein kleines Zimmer zu zweit bewohnen. Auch deutsche Damen anderer Stände, welche sich eine Zeitlang in Paris aufzuhalten wünschen, können dort Aufnahme finden gegen ein Kostgeld von 6 Franken für den Tag oder 150 Franken für den Monat.

Seit Kurzem hat eine Elsässerin die Leitung des Heims übernommen, welche, obwohl der deutschen Sprache mächtig, mit den Pensionärinnen des Hauses doch stets französisch spricht und auf Wunsch ihnen auch Unterricht in der Sprache ertheilt. Diese Einrichtung ist gewiß sehr zweckmäßig, da das Erlernen der französischen Sprache meist das Hauptziel der nach Paris gehenden Damen ist, dieselben aber, sobald sie eine Stelle angenommen, dazu nicht immer Gelegenheit finden, da sie dann mit ihren Zöglingen meist deutsch sprechen müssen. In allen diesen Beziehungen wird also die mit so großen Opfern und so vieler Mühe ins Leben gerufene Anstalt ein Segen sein für die deutschen Mädchen, welche das französische Babel aufsuchen, das bisher so Mancher, die sich fremd und schutzlos hineingewagt, den Untergang bereitet hat.

Schließlich möchte ich noch einer deutschen Aufführung gedenken, der ich in Paris beiwohnte. Die Veranstalterin war eine an einen Franzosen verheirathete Deutsche, die seit dem Kriege dort Unterricht in der deutschen Sprache und Litteratur ertheilt. Um den Eltern eine Probe von den Leistungen ihrer zahlreichen Schüler und Schülerinnen zu geben, ließ sie dieselben in einem festlich geschmückten Saal deutsche Dichtungen vortragen, die zum Theil recht hübsch gesprochen, besonders aber gut gespielt wurden. Wirklich reizend war die Aufführung des „Schulmeisters mit dem Alphabet“ (von Julie Thiele), durch 25 kostümirte Kinder dargestellt, deren jedes einen Stand darstellte und demselben entsprechende Verse sprach. Dieser Schulmeister im Sammethabit mit Atlasaufschlägen, in Kniehosen und Schnallenschuhen, mit Allongeperücke und Dreimaster, dieser fünfjährige Amor, dieser allerliebste Bergmann, dieser Conditor mit dem Kuchenkorb auf dem Kopf bis herab zur Winzerin und Zigeunerin: sie alle waren mit einer Zierlichkeit und Eleganz gekleidet, von einer Gewandtheit in ihren Bewegungen und in der Verbeugung, mit der sie an- und abtraten, die man bei unseren Kindern nicht immer finden dürfte. Den Haupteffekt der Aufführung aber bildete der erste Akt aus Kotzebue’s „Kleinstädtern“, durch Knaben und Mädchen von 12 bis 15 Jahren dargestellt; und bewundernswerth wirklich war die Zungenfertigkeit, mit der sie die „Frau Ober-Floß- und Fischmeisterin“, die „Stadt-Accise-Kassaschreiberin“, den „Bau-, Berg- und Weginspektors-Substitut“ hervorsprudelten. Auch hier waren die Kostüme, bei aller Komik, doch immer zierlich und kleidsam und das Spiel fast durchweg gut. Lieb aber war es mir, daß die meisten der anwesenden Papas und Mamas kein Deutsch verstanden: sie möchten sonst die geschilderten antediluvianischen Zustände als die jetzt bei uns herrschenden aufgefaßt und darin Nahrung für ihren Hang, uns lächerlich zu machen, gefunden haben. Es fiel mir auf, daß die Mehrzahl der Zöglinge der sehr beliebten Lehrerin dem männlichen Geschlechte angehörten. „Freilich,“ sagte mir mit blitzenden Augen ein kleiner Bursche, „wir lernen jetzt deutsch – pour notre revanche!“


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Professor Wehlau traf in dem vor dem Schlafgemache der Gräfin liegenden Zimmer ganz unerwartet mit Gerlinde zusammen, die es wie eine Erlösnng begrüßt hatte, daß die Gräfin nach ihr verlangte, und schleunigst diesem Wunsche nachgekommen war. Das entzog sie wenigstens vorläufig den Zornausbrüchen ihres Vaters, und Hertha hatte es übernommen, diesen einigermaßen zu beruhigen.

Wehlau erblickte das junge Mädchen kaum, als er wie ein Stoßvogel auf sie zuschoß.

„Fräulein von Eberstein, ich möchte Sie auf eine Minute allein sprechen. Wollen Sie mir einige Fragen erlauben?“

„Gewiß, Herr Professor,“ versetzte Gerlinde, fast bestürzt über diese Anrede. Sie hegte eine unbesiegbare Scheu vor dem Professor, der bisher nie Notiz von ihr genommen hatte, und seine kurze herrische Art, selbst am Krankenbett, war vollends nicht geeignet, ihr Vertrauen einzuflößen. Es überkam sie eine tiefe Bangigkeit bei dem Gedanken, daß gerade dieser Mann der Vater ihres Hans sei, und jetzt rückte er ihr nun vollends dicht auf den Leib und begann allerlei seltsame Fragen an sie zu richten, die sie gar nicht begriff. Dabei fixirte er sie so starr und unaufhörlich, daß sie sich zu fürchten begann. Das arme Kind ahnte ja nicht, daß es auf seinen gesunden Verstand hin geprüft werden sollte, und gab in der Angst und Verwirrung ganz verkehrte Antworten, was Wehlau natürlich nur in seiner vorgefaßten Meinung bestärkte.

Er ging endlich auf die Familientradition der Eberstein über, bei der die fixe Idee des alten Freiherrn zum Vorschein gekommen war. Gerlinde hatte sich während ihres Aufenthaltes in der Stadt und in Berkheim den Chronikstil ziemlich abgewöhnt: die Gräfin und Hertha hatten in dieser Hinsicht einen sehr heilsamen Einfluß ausgeübt; hier aber vergaß sie das vollständig. Jener starre Blick bannte sie förmlich, wie das Auge der Schlange ein zitterndes Vögelchen. Sie war nur bestrebt, den unheimlichen Frager zufrieden zu stellen, und als er sich unglücklicherweise beikommen ließ, zu fragen: „Sie führen ja wohl den Doppelnamen Eberstein-Ortenau?“ da faltete sie wieder die Hände und begann:

„Im Jahre des Heils dreizehnhundertundsiebzig war eine Fehde ausgebrochen zwischen Kunrad von Eberstein und Balduin von Ortenau, dieweil –“ und nun war kein Haltens mehr! Sie erzählte die ganze endlose Geschichte von Kunrad und Hildegard, von Burgverließ und Hochzeit von Anfang bis zu Ende, ohne ein einziges Mal zu stocken oder Athem zu schöpfen, und verfiel dabei wieder rettungslos in den alten Plapperton. Sie bemerkte es nicht einmal, daß die Thür sich öffnete und Hans, von einer unheilvollen Ahnung getrieben, auf der Schwelle erschien. Er kam gerade recht, um noch den Schluß der Geschichte zu hören, die ihm nun allerdings nicht mehr neu war.

„Da haben wir es!“ rief der Professor triumphirend. Er stürzte auf seinen Sohn zu, zog ihn in eine Ecke des Zimmers und raunte ihm dort leise, aber energisch zu:

„Ich sagte es Dir ja! Sie ist auch schon angesteckt, der unselige Keim ist vollständig entwickelt und wird sich weiter vererben. Wenn Du jetzt noch auf Deinem unsinnigen Vorhaben

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 846. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_846.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2023)