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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


dauerte nur Minuten; dann raffte er sich zusammen und warf den entsetzlichen Gedanken weit von sich.

„So wird Raoul uns am besten Auskunft geben können,“ sagte er mit wiedergewonnener Fassung. „Ich werde ihn rufen lassen.“

„Der Graf ist nicht zu Hause,“ warf Michael ein.

„Dann ist er im Ministerium. Ich sende sofort zu ihm; die Sache muß aufgeklärt werden; es ist keine Minute zu verlieren.“

Er wollte nach der Klingel greifen, hielt aber plötzlich inne; denn er begegnete den Augen Rodenberg’s, und es mußte wohl etwas Furchtbares zu lesen sein in diesem tiefernsten Blick. Langsam ließ der General die ausgestreckte Hand wieder sinken, und mit halb versagender Stimme fragte er:

„Nun, was ist’s? Heraus damit!“

Michael trat dicht an ihn heran.

„Ich habe Ihnen Schweres zu melden, Graf Steinrück, sehr Schweres – machen Sie sich auf das Schlimmste gefaßt!“

Der General fuhr mit der Hand über die Stirn, die von kaltem Schweiß bedeckt war; aber dabei hingen seine Augen wie gebannt an denen des Sprechenden.

„Das Schlimmste? Wo ist Raoul?“

„Abgereist – nach Frankreich!“

Steinrück fuhr nicht empor, schrie nicht auf. Er griff nur krampfhaft nach dem Herzen und brach dann lautlos zusammen. Er wäre zu Boden gefallen, wenn Michael ihn nicht aufgefangen hätte.

So vergingen Minuten. Der junge Officier hatte den halb Besinnungslosen in den Lehnstuhl niedergleiten lassen und stand schweigend an seiner Seite. Er fühlte, daß hier jedes Wort, jede Hilfeleistung umsonst war. Endlich aber beugte er sich über ihn.

„Excellenz!“

Es erfolgte keine Antwort; Steinrück schien nichts von dem zu wissen, was um ihn her vorging.

„Graf Steinrück!“

Wieder dies beängstigende Schweigen. Der General lag regungslos da; seine Augen starrten ausdruckslos ins Leere; nur die schwer athmende Brust verrieth, daß noch Leben in ihm sei.

„Großvater!“

Das Wort kam leise, zögernd von den Lippen, die es nie hatten aussprechen wollen; jetzt konnten sie es sprechen, und dies Wort löste auch endlich die unheimliche Erstarrung. Steinrück zuckte zusammen und schlug plötzlich beide Hände vor das Antlitz.

„Großvater, sieh’ mich an!“ brach Michael jetzt angstvoll aus. „Nicht dieses furchtbare Schweigen – sprich wenigstens ein Wort zu mir!“

Der General ließ, wie mechanisch folgend, die Hände wieder sinken und sah zu ihm auf.

„Das mir!“ stöhnte er. „Michael – Du bist gerächt!“

Es war in der That eine Rache des Schicksals. Hier an derselben Stelle hatte der Sohn, den man mit dem Andenken seines Vaters bis aufs Blut gepeinigt, dem harten erbarmungslosen Großvater zugerufen: „Ihr Wappenschild steht auch nicht so hoch und unerreichbar wie die Sonne am Himmel; es kann ein Tag kommen, wo es einen Flecken trägt, den Sie nicht auslöschen können, und dann werden Sie fühlen, welch ein erbarmungsloser Richter Sie gewesen sind!“ Der Tag war gekommen, und er hatte die alte mächtige Eiche, die allen Stürmen Trotz bot, mit einem einzigen Schlage gefällt.

„Ermanne Dich!“ drängte Michael. „Du darfst jetzt nicht erliegen. Bedenke, was der Unselige in Händen hat, was damit auf dem Spiele steht. Wir müssen einen Entschluß fassen!“

Er hatte das rechte Mittel ergriffen. Der Gedanke an die drohende Gefahr riß den General empor aus seiner dumpfen Verzweiflung. Er erhob sich, noch mühsam und schwankend; aber er stand doch wieder aufrecht, und die Besinnung schien ihm zurückzukehren.

„Könnte ich ihn erreichen, den Buben! Ich wollte ihn zwingen, ich wollte ihn mit diesen meinen Händen – aber mir bleibt keine Zeit mehr. Mein Eintreffen im Hauptquartier ist auf die Stunde bestimmt.“

„So schicke mich!“ fiel Michael entschlossen ein. „Eine Ordre meines Generals, die auf eine geheime wichtige Mission lautet, enthebt mich jeder anderen Verpflichtung. Der Bahnverkehr ist jetzt überall gehemmt und unterbrochen wegen der Truppendurchzüge; man braucht die doppelte Zeit, um vorwärts zu kommen. Meine Uniform und Dein Befehl stellt mir jeden Militärzug zur Verfügung; ich hole Raoul ein und erreiche ihn noch diesseit der Grenze.“

„So weißt Du also den Weg, den er genommen hat?“

„Ja, und ich habe mir auch die Spur der Clermonts gesichert, für alle Fälle. Ich konnte und durfte dem schrecklichen Verdachte nicht Worte geben, der sich auf bloße Möglichkeiten gründete, so lange mir jeder Beweis fehlte, und der Dienst stellt jetzt auch an uns die weitestgehenden Anforderungen. Erst vor einer Stunde gelang es mir, mich frei zu machen und nach der Wohnung Clermont’s zu eilen. Er war abgereist mit seiner Schwester, und zwar hatten sie die süddeutsche Bahnlinie genommen, auf der sie wohl schneller fortzukommen dachten. Ich fuhr direkt uach dem Bahnhöfe, der auch stark von der Truppenbefördernng in Anfpruch genommen ist. Der Morgenzug war noch planmäßig abgegangen, und auch der Mittagszug stand anf den Schienen, eb.n zur Abfahrt bereit. Wie weit sie freilich kommen und was f.ir Stocknugen unterwegs eintreten würden, ließ sich nicht vorhergehen. Ich sprach noch mit dem Beamten; da auf einmal erblickte ich Raoul auf der anderen Seite. Er war allein, in höchster Eile und stürmte den Zug entlang, in dem er etwas zu suchen schien. Da wurde das letzte Zeichen gegeben; er riß die erste beste Thür auf, sprang hinein, und der Zug brauste davon. Ich konnte ihn nicht erreichen, da die ganze Breite des Bahnhofes zwischen uns lag, aber ich eilte an den Schalter, um zu erfahren, wohin das Billett lautete, das sich der letzte einzelne Passagier gelöst hatte. Man nannte mir – Straßburg!“

Der General stützte sich schwer auf den Armstuhl bei diesem in fliegender Eile gegebenen Bericht; aber er verlor kein Wort davon und bei dem Schluß, der ihn hätte niederschmettern sollen, richtete er sich empor, mit einem Aufflammen seiner alten Kraft.

„Du hast Recht. Es ist noch eine Möglichkeit, ihn zu erreichen,“ er nannte Raoul’s Namen nicht mehr. „Wenn noch etwas zu retten ist, so wirst Du es retten, Michael! Ich weiß es. Schaffe mir die Papiere zurück, von dem Lebenden – oder von dem Todten!“

„Großvater!“ rief der junge Officier entsetzt zurückweichend.

„Auf mein Haupt die Folgen! Du hast sie nicht zu tragen. Ich verlangte einst von Euch, mein Blut zu schonen, das in Euch Beiden fließt; jetzt sage ich Dir, Du hast nichts mehr zu schonen an dem Hochverräther! Entreiße ihm seinen Raub! Du weißt, was daran hängt – entreiße ihn dem Lebenden oder dem Todten!“

Sie klangen furchtbar, diese Worte, und furchtbar war auch der Ausdruck in dem Antlitz des Greises, jede menschliche Empfindung schien daraus geschwunden; es zeigte nur noch die starre, eiserne Unerbittlichkeit des Richters. Man sah es: er hätte den Enkel, den Erben seines Namens, der seinem Herzen einst so nahe gestanden, geopfert, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich werde meine Pflicht thun,“ sagte Michael halblaut, aber auch seine Stimme hatte etwas von jenem schrecklichen Klang.

Der General ging zum Schreibtische und ergriff die Feder; seine Hand bebte und drohte den Dienst zu versagen, aber er bezwang die Schwäche und schrieb einige Zeilen nieder, die er dem Hauptmann reichte.

„Ich lege Alles in Deine Hand, Michael. Geh! Vielleicht gelingt es Dir, mir das Letzte zu ersparen. Habe ich in vierundzwanzig Stunden keine Nachricht von Dir, so muß ich sprechen und muß bekennen, daß der letzte Steinrück –“

Er konnte nicht vollenden; seine Stimme brach, aber seine Hand umschloß mit wildem, verzweiflungsvollem Drucke die Hand Michael’s. Der verleugnete Sohn der verstoßenen Tochter sollte jetzt der Retter der Familienehre sein; er war die einzige, letzte Hoffnung des verzweifelnden Greises, und er erwiderte den Händedruck.

„Vertraue mir, Großvater! Du hast es selbst gesagt, wenn noch irgend etwas zu retten ist, so werde ich es retten. Ich sende Dir die Nachrichten nach Deinem Hauptquartier. Leb’ wohl!“

(Fortsetzung folgt.)

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 880. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_880.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)