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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Der unnütze Störenfried! Wie ist er nur wieder heraufgekommen?“ hörte ich noch ärgerlich Gretchen rufen. Dann stand ich im Vorflur und horchte. Aber in diesem Augenblick war Alles still.

„Männe! Männe!“ rief ich und riß die Flurthür auf – Nichts zu sehen. Ich trat in die Küche; der Bursche und die Köchin in vollster Thätigkeit, die Letztere schob eben eine zischende rauchende Pfanne vom Feuer.

„Wo heult der Hund?“ rief ich.

Der biedere Pole stand mit offenem Munde, das Tuch und einen abgetrockneten Teller in den Händen. „Weiß ich nicht, Herr Lieutenant: war ich vorhin unten und gab ihm Wurst, meine ich, er ist im Pferdestall.“

Da – wieder das gedämpfte und doch so heftige Kratzen, das Heulen, Winseln! Im nächsten Augenblick war ich durch den schwach erhellten Salon geeilt und hatte die Thür der Kinderstube geöffnet.

Barmherziger Gott!

Eine Wolke erstickenden Qualmes zog mir entgegen, ein laut klagendes Geschöpf sprang an mir herauf, leckend, winselnd, und floh dann zurück in das raucherfüllte Zimmer. Halb sinnlos vor Angst drang ich nach; dort wußte ich das Bett des Lieblings – ich tastete, mühsam athmend, hinüber, griff in die Kissen und hob das Kiud heraus; schwer lag es in meinen Armen. Und nun eilte ich aus der tödlichen Luft nach dem Salon.

Der Bursche war mir nachgekommen, hatte gesehen und die Schreckenskunde an die festliche Tafel gebracht. Ich saß mit dem leblosen Kinde am Fenster, das ich instinktiv geöffnet, und vor mir lag zitternd, schreckensbleich, keines Wortes mächtig, meine Frau auf den Knieen.

„Mein Kind, Rudolf, mein Kind!“

Ich hörte Rufen und Schreien; ich fühlte, wie meine Schwiegermutter es mir vom Arme nahm, und sprang auf die Füße und richtete die arme kleine Frau empor.

„Komm, Grete, sei stark!“ rief meine Schwiegermutter, „Wasser – Eau de Cologne – einen Arzt!“ Und Gretchen eilte zitternd zu dem Tische, auf den man das Kind gelegt hatte; mit bebenden Händen entkleidete sie es, mit bebenden Händen und angstverzerrtem Gesichte. Das Zimmer hatte man rasch erhellt; sie waren Alle da bis auf meinen älteren Schwager und den Burschen, die den Arzt suchten. Man hörte nur das angstvolle Athmen, das unterdrückte Schluchzen meiner Frau.

„Bleib’ ruhig, Grete,“ tönte die Stimme meiner Schwiegermutter, „ruhig, mein Liebling! So, nun das Hemdchen herunter.“

Ich stand dabei und sah, wie das blasse Antlitz der alten Frau sich zu dem tief gerötheten Gesichtchen des Kindes hernieder beugte, wie sie die Fußsohlen rieb und die kleine Brust. Keiner von uns wagte zu athmen; eine lange Pause, und dann – „es lebt, mein gutes Kind, ich fühle das kleine Herz, wie es schlägt!“ Ein Paar große Tropfen perlten über die Wangen der Großmutter.

„Es lebt!“ rief Gretchen. „Großer Gott, habe Dank!“ Sie nahm es empor, hüllte es in die Decken und eilte wieder an das offene Fenster; frische reine Luft strömte ihr entgegen, und leise, leise begann das Kind zu weinen.

„Weine nur, mein Liebling, weine nur!“ – Es klang mir wie erlösend in diesem Augenblicke. Ich hielt sie Beide umfaßt, Mutter und Kind.

„Gretchen!“

„Rudolf, es wäre auch mein Tod gewesen.“

„Sprich nicht so, Gretchen.“

Sie waren Alle hinausgegangen. Wir standen da, noch immer den neu geschenkten Liebling im Arme, der jetzt blaß, aber mit großen offenen Augen uns anschaute. Ja, rasch kann sich Glück und Unglück wenden!

„Wie ist es doch gekommen, Rndolf?“

Da flog die Salonthür auf, und ein bleiches verstörtes Mädchen eilte herein und fiel Gretchen zu Füßen.

„Gnädige Frau – Verzeihung – barmherziger Gott, vergeben Sie mir!“

Meine Frau wandte den Kopf von ihr und winkte, sie solle sich entfernen.

„Herr Lieutenant,“ jammerte die Minna, und rutschte auf den Knieen zu mir herüber, „ich bin schlecht gewesen! Ich bin zu meinem Bräutigam gelaufen; ich hatte ihm ein Paar Pantoffeln gestickt, die ich ihm bringen wollte; Elschen schlief so schön, und ich habe vergessen, den Wachsstock auszulöschen – das Nachtlicht brannte so trübe, und ich fand keinen Leuchter und stellte ihn in den Nähkorb, und da ist er heruntergebrannt und hat die Wolle angezündet. Ich war aber nur in Angst wegen Männe, der sich in die Stube geschlichen hatte, und lief, so rasch ich konnte, wieder her, und nun – doch zu spät, Herr Lieutenant!“

„Gehen Sie!“ befahl ich, denn eben trat der Arzt ein. Wankend verließ das Mädchen das Zimmer.

„Es lebt, Herr Doktor!“ riefen wir ihm entgegen.

„Was sind das für Sachen!“ sagte er kopfschüttelnd und beugte sich über die kleine Patientin. Er kannte die ganze Unglücksgeschichte bereits von meinem Schwager. „Ein paar Augenblicke später, Herr Lieutenant, dann – welcher glückliche Zufall hat Sie noch rechtzeitig hingeführt?“

„Ja, ein glücklicher Zufall, Herr Doktor!“ und meine Augen sahen ernst in die von Gretchen, die sich langsam senkten.

„Ist das Kind außer Gefahr?“ fragte sie hastig, und ihr blasses Gesicht färbte sich auf einmal dunkelroth.

„Ich sollte es denken, gnädige Frau. Legen Sie die Kleine schlafen in einem andern, frisch gelüfteten Zimmer. Morgen früh sehe ich wieder nach, und – sorgen auch Sie, daß Sie ruhig werden.“

Bald herrschte tiefe Stille in unserer Wohnung. Sie gingen Alle und drückten uns nun ganz besonders fest die Hand. Im Salon neben dem Weihnachtstisch stand jetzt das Bettchen mit dem schlummernden Kinde. Leise schluchzend kniete die Mutter daneben, die Hände gefaltet, den Kopf in die Kissen geborgen.

Dann erhob sie sich. „Komm mit, Rndolf!“

„Wohin?“

„Komm mit!“ Sie zog mich an der Hand hinaus, durch den Korridor, die Treppe hinunter. „Der Hund, Rudolf, der gute Hund!“ flüsterte sie auf der Schwelle des Pferdestalles. „Rufe Du ihn, denn mir wird er nicht gehorchen.“

„Männe!“ rief ich in den dunstig-warmen dunklen Stall hinein; da raschelte es im Stroh und kam zu mir herüber, winselnd und bellend vor Freude.

„Komm, Männe!“ sagte Gretchen und hob ihn auf den Arm, „komm!“ Und als wir Beide wieder über den Hof schritten, da sah ich im Sternenlichte der heiligen Nacht das schwarze Fellchen des Hundes an der zarten Wange der blonden Frau, und sah die großen Thränentropfen, die aus ihren Augen fielen, und die Hand, die das Thierchen streichelte. So stieg sie rasch und stumm die Treppe empor.

„Setz ihn nieder, Gretchen; er kommt schon mit,“ bat ich. Aber sie schüttelte nur den Kopf, und oben verschwand sie rasch im Eßzimmer mit dem Hunde.

Ich folgte ihr nicht; ich stand im Salon am Fenster und dachte der letzten Stunden.

O furchtbar!

Nun im Eßzimmer leise Tritte, Klappern von Tellern; „Komm, Männe!“ sprach Gretchen weich. „Komm!“

Nach einer Weile trat sie an meine Seite und faßte meine Hand. „Vergieb mir, Rudolf!“

„Was denn, Gretchen?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 907. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_907.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2021)