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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

auf sich warten läßt: sie bilden die um den Tisch versammelte Gruppe, während zwei Knaben am Fenster lauschen und in höchster Spannung den ersten Glockenschlag und den ausbrechenden Jubel in den Straßen erwarten. Und der Glockenschlag ertönt: und mit Thränen der Rührung umarmen sich Alle und heiße Wünsche des Glückes gehen von Mund zu Munde, von Herz zu Herzen.

Was aber sinnt der einsame Mann, der gegenüber bei der Studirlampe sitzt und den nicht der mahnende Glockenton oben, nicht der Lärm der Menge unten rührt? Es ist ein Denker, der über das Schicksal der Menschheit brütet. Von Jahr zu Jahr, von Jahrhundert zu Jahrhundert rastloses Streben und Ringen: doch wird das ersehnte Ziel näher gerückt und giebt es ein solches Ziel, welches das Streben und Ringen verlohnt? Die Zeiten ändern sich; aber in ihrem Wandel und Wechsel geht so viel verloren, was bleiben sollte, und bleibt so viel, was zu verlieren ein Glück wäre. Ist’s nicht ein Traum, daß die Menschheit sich fortbewegt in fortschreitender Entwickelung? Ist die Geschichte nicht ein bloßer Kreislauf und ihr einziges Symbol die sich in den Schwanz beißende Schlange? Verbirgt sie nicht unter dem wechselnden Kostüm nur die Eintönigkeit ihrer Wiederholungen? Und hat dies erfinderische Jahrhundert, das der Schnelligkeit und Bequemlichkeit des Verkehrs neue Wege gebahnt, auch das Telephon entdeckt, das von Herzen zu Herzen spricht, oder den unterseeischen Kabel, der nicht bloß die Börsen, sondern auch die Geister diesseit und jenseit des Oceans im Dienste edler Menschlichkeit, der Wahrheit, Freiheit und Schönheit verbindet? Und während draußen ein bunter Farbenschein an den Häusern heraufleuchtet und eine freudige Helle sich über die Straßen verbreitet, verdüstert sich das Gemüth des zweifelnden Denkers und immer tiefere Schleier verhüllen ihm die Zukunft.

Nicht über das Ferne, über das Nächste sinnt der Staatsmann, der sich in sein Kabinet zurückgezogen und die neuesten Depeschen mustert. Was wird das kommende Jahr uns bringen, Krieg oder Frieden? Es ist dieselbe Frage, die viele tausend Herzen bewegt: steht des deutschen Reiches Macht und Ehre auf dem Spiele? Werden sich die Besiegten von Sedan mit den Siegern von Plewna verbinden? Werden uns von Westen die Volksheere bedrohen mit dem dreifarbigen Banner, das sie vielleicht im letzten Augenblicke mit der rothen Fahne vertauschen, und im Osten die Völkerschaften Asiens und Halbasiens, die vielnamigen Reiterscharen aus den unbegrenzten Landen des Moskowiterreichs? Ist der Haß gegen uns größer im Westen, wo bald offen, bald verhüllt die Revanche ihre Orgien feiert, oder im Osten, wo das alte Rußland die Führerschaft der stammverwandten Völker übernehmen will, nach den offenen Meeren, nach der Kuppel der heiligen Sophia begehrliche Blicke richtet und Europas Staaten an seinen Siegeswagen spannen möchte, wie die Tatarenreiche der Steppen und die alten Märchenstädte des innern Asiens?

Alle Herzen ersehnen den Frieden; ihn zu wahren ist das eifrige Streben der deutschen Staatslenker … und doch leuchtet etwas wie Kriegsfackel hinter den Gewölken der Sylvesternacht. Immer schwerer und mächtiger wird die Kriegsrüstung auch bei uns; denn das Reich der Mitte darf nicht zurückbleiben hinter den feindlichen Staaten jenseit des Rheins und des Niemens. Ein Staat belastet den andern, ein Krieg erzeugt den andern, und ein unheimliches Gesetz der Folgerung läßt die Menschheit nicht zu Athem kommen. Und der Hineinblick in die Flammen und Schrecken des Weltbrandes erfüllt die Herzen mit Zagen und Bangen: nicht die Furcht vor dem Kampfe ist’s, sondern der Gedanke an den Verlust der Lieben, die uns jetzt in der Blüthe der Jahre und der Hoffnungen zur Seite stehen und die vielleicht die schwarze Todesnummer ziehen, wenn der Gott des Krieges seine Urne schüttelt.

Frieden … Frieden! Auf den Straßen drunten ist’s still geworden, die Wolken droben haben sich ganz verzogen, tausend Sterne blitzen am Firmament. Wie trostreich der Blick auf diese Zeichenschrift der Ewigkeit, die uns lehrt, daß auch unsere Erde nichts ist als ein kleiner Punkt unter jenen Millionen, welche Funken in der Ferne sind und Welten in der Nähe … wie klein erscheint da auch das große Leid der Sterblichen!

Doch fest, wie die Wölbung des Himmels über uns, stehen Kraft und Muth in unserer Brust, Kraft, das Schicksal selber zu schaffen, und Ergebenheit in das über uns verhängte. Das sei der Segen, den die fliehenden Schatten der Mitternacht uns zurücklassen, und so wollen wir dem neuen Tag und dem neuen Jahre vertrauensvoll ins helle Auge sehen!†      


Die Bastille.

Von Rudolf von Gottschall.
II.

Wir haben das Aussehen und die Einrichtung dieser düstern Zwingburg kennen gelernt, deren Wiederherstellung die neue Republik plant: werfen wir jetzt auch einen Blick auf die hervorragenden Gäste, welche sie im Laufe der Zeiten beherbergt hat.

Da begegnet uns zuerst der größte Schriftsteller Frankreichs im 18. Jahrhundert, Voltaire, der in jüngeren Lebensjahren zweimal hier gefangen saß. Damals trug er noch den Namen François Marie Arouet; er hatte auf den Regenten, den Herzog von Orleans, und seine Tochter, die Frau Herzogin von Berry, die frechsten Spottverse gemacht. Freilich war der Stoff sehr dankbar und ganz dazu geeignet, einen jungen Martial, der in die Fußtapfen des römischen Epigrammendichters trat, zu reizen. Die wüsten Feste der Regentschaft sind ja bekannt. Vom Mai 1717 bis zum April 1718 fand er hinlänglich Muße sich darüber zu freuen, daß seine dichterischen Versuche nicht wirkungslos geblieben waren. Im März 1726 wurde er zum zweiten Male in der Bastille eingekerkert, doch schon nach einem Monat wieder entlassen. Herr von Rohan-Chabot hatte sich die Freude bereitet, den frechen Burschen, der damals noch kein großer Dichter war, durch seine Bedienten durchprügeln zu lassen. Da Arouet auf Rache sann, um, wie er schrieb, nicht seiner Ehre, sondern der des Herrn von Rohan wieder aufzuhelfen, brachte man ihn auf einige Zeit in sicheren Verwahrsam.

Wenn Voltaire wegen des ihm angeborenen Spottteufels in der Bastille schmachten mußte, so führten den verwegensten Don Juan des französischen Hofes, den Herzog Jean François Armand Duplessis von Richelieu, seine Liebesabenteuer mehrfach in dies Gefängniß; einmal sein Verhältniß zur Herzogin von Burgund, ein anderes Mal seine Beziehungen zur dritten Tochter des Regenten, Fräulein von Valois, welche von heißer Liebe für ihn entbrannt war; außerdem saß er dort wegen eines Zweikampfes mit Herrn von Matignon, dessen Frau er durch üble Nachrede gekränkt hatte. Herzog von Richelieu behielt stets eine gewisse Pietät für das alternde Gemäuer, in welchem er in seiner Jugend, in den Jahren 1711, 1716 und 1719 Buße gethan. Denn noch in seinem höchsten Alter, im Jahre 1786, stattete er ihm einen Besuch ab und bestieg sogar die Thürme. Er war damals über neunzig Jahre alt: der jugendliche Wüstling hatte es zu hohen Jahren gebracht.

Nicht gering ist die Zahl der Gefangenen, welche wegen politischer Verbrechen in die Bastille eingekerkert wurden; einige davon verließen sie nur, um das Schafott zu besteigen. Zu ihnen gehört Chevalier de Rohan, der mit den Holländern einen Vertrag geschlossen und ihnen mehrere Plätze in der Normandie überliefern wollte. Die Verschwörung wurde nach der Schlacht bei Senef entdeckt und Rohan 1674 verhaftet. Besonders betheiligt war ein normännischer Edelmann Latréaumont, der das ganze Geheimniß der Verschwörung in Händen hatte und, da es sonst an Beweisen, Zeugen und Schriftstücken fehlte, allein in der Lage war, Rohan zu belasten. Dieser Latréaumont schoß auf den Major, der ihn verhaften ließ, es war ein guter Freund von ihm; der Schuß ging fehl. Der Major aber rief, als Latréaumont auf ihn anlegte, um zu zeigen, daß er keine Furcht habe: „Schießt!“ Einer der Gardisten sah darin einen Befehl zum Feuern und drückte seine Muskete auf den Gefangenen ab; dieser starb am nächsten Tage an der Verwundung. Nun wäre Rohan sicher gewesen: auch umkreisten allnächtlich Leute das Schloß, welche

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 910. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_910.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)