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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Herzenskrisen.
Roman von W. Heimburg.

Der Schnellzug hielt vor dem Perron in H.; „Eine Minute Aufenthalt!“ riefen die Schaffner, von Koupé zu Koupé eilend. Vor der Wagenreihe entwickelten sich die bekannten Abschieds- und Begrüßungsscenen; dazwischen verlangten halbverdurstete Reisende nach Bier, schrieen die Gepäckträger ihr „Vorsicht!“ in den sprechenden, hastenden Menschenknäuel, und die Glocke that ihre drei durchdringenden Schläge. Die Koupés hatten sich im Umsehen gefüllt, trotz des unverhohlenen Mißfallens der bereits darin Sitzenden, und wie mit einem Zauberschlage war Ruhe eingetreten. Eben setzte der Zugführer sein Pfeifchen an den Mund, da stürzte in athemloser Hast ein junges Mädchen aus dem Stationsgebäude.

„Wohin?“ rief ihr der Schaffner entgegen.

„Nach Hohenberg – zweite Klasse – Damen – –!“ stieß sie hervor.

„Schon besetzt!“ sagte der Mann lakonisch, riß die Thür zu einem Koupé erster Klasse auf, half der schlanken Gestalt hinein, warf Plaidbündel und Reisetasche hinterher und ging dann langsam auf dem Trittbrette des bereits fahrenden Zuges weiter, um mit dem Koupiren der Billette zu beginnen.

Indeß saß das Mädchen, noch immer athemlos, auf dem rothen Sammtpolster, betrachtete ihr Handgepäck, rückte sich das Strohhüten auf den blonden Haarflechten zurecht und tupfte mit dem Taschentuch das erhitzte Gesichtchen. Dann faßte sie die Dame ins Auge, die zum entgegengesetzten Fenster hinausschaute und nicht einmal den Kopf gewendet hatte, als sie so eilig hineinflog. Sie trug ein einfaches braunes Tuchkleid ohne irgend welchen Aufputz, aber es umschloß in tadellosem Sitz die zierlichen Formen einer jugendlichen Gestalt. Unter dem Faltenrocke schaute ein schmaler eleganter Lederstiefel hervor, vielknöpfige Marseiller Handschuhe bekleideten die schlanken Hände, und ein braunes schmuckloses Filzhütchen, welches graziös auf einer Fülle dunklen Haares saß, vervollständigte die ausgesuchte Toilette.

Auf dem Sitze der Dame gegenüber lag ein aufgeschlagenes Buch neben einer eleganten Juchtenmappe, auf deren Silberbeschlag ein H. L. unter siebenzackiger Krone gravirt war. Das Buch zeigte lateinische Lettern und schien in französischer Sprache verfaßt zu sein. Einige riesenhafte Zeitungsblätter waren zu Boden geglitten, und neben ihnen erblickten die braunen verwunderten Augen des Mädchens die Ueberreste von zwei Cigarretten. Sie wußte nun, woher der eigentümlich süßliche und doch scharfe Duft kam, der das Koupé erfüllte.

„Das Billet, ich bitte –” tönte die Stimme des Schaffners, der sich zum Fenster hinein bog. Hastig fuhr die kleine Mädchenhand in die Tasche des Kleides, um sie ebenso hastig wieder hervorzubringen. Ein eifriges Suchen begann in der Reisetasche, auf dem Sitz, an der Erde, und während dem jagten Röthe und Blässe in jähem Wechsel auf dem weichen Mädchengesicht, und die Augen hingen erschreckt an der verdrießlichen Miene des Schaffners.

„Ich muß mein Portemonnaie verloren haben, und mit ihm das Billet,“ stammelte sie endlich.

„Sehen Sie nur noch einmal nach,“ brummte der Mann, „ich komme wieder zurück.“ Damit war er verschwunden, und sie fing aufs Neue an, die Taschen ihres schwarzen Alpacakleides und die Gepäckstücke zu durchsuchen. Umsonst! Ein halblautes „Ach Gott!“ zitterte durch den Raum, und dann fragte eine eigenartig klingende Frauenstimme.

„Kann ich Dir irgendwie aushelfen, Lucie Walter?“

Die Angeredete sah erstaunt in das schöne regelmäßige Antlitz, das sich zu ihr gewendet, das ihr so bekannt erschien und dessen sie sich doch durchaus nicht zu erinnern vermochte.

„Du siehst noch eben so aus, Lucie, wie damals, als wir gemeinschaftlich durch den Gartenzaun Deines Vaters krochen, um Erdbeeren zu naschen.“

Ueber das Gesicht des Mädchens flog ein Lächeln. „Hortense von Löwen – ich hätte Dich – Sie“

„Dich! Bitte schön – wenn es Dir recht ist?“ sagte Hortense und faßte die dargebotene Hand, – „Dich nicht erkannt,“ vollendete sie dann.

„Das glaube ich wohl. Du aber gleichst noch ganz, Zug für Zug, dem blonden Kinde; als habe Dich Deine Mutter in einem Glaskästchen aufbewahrt, so unverändert und weich ist Dein Gesicht geblieben, während ich –.“ Sie stockte. „Wie alt war ich,“ sprach sie weiter. „als wir bei Euch zur Miethe wohnten – zwölf Jahre ungefähr. Jetzt bin ich fünfundzwanzig, also dreizehn Jahre sind vergangen! – Wie alt warst Du zu jener Zeit?“

„Zehn Jahre, Hortense.“

Sie saßen sich jetzt gegenüber: Hortense nachlässig zurückgelehnt, Lucie kerzengerade, wie man bei Anstandsbesuchen zu sitzen pflegt.

„Also dreiundzwanzig jetzt? Wie ist es Dir ergangen seit unserem Wegzug von D.? Ich habe nie wieder von Euch gehört. Wie geht es Deinen Eltern und Geschwistern?“

Das Lächeln wich plötzlich aus dem Mädchengesicht. Lucie sah auf ihre Hände herunter, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie mit unterdrücktem Schluchzen antwortete. „Sie sind Beide gestorben.“

Hortense von Löwen schwieg und schaute zum Fenster hinaus. „Und wo hast Du eine Heimath gefunden?“ fragte sie endlich.

„Bei meiner ältesten Schwester, die an den Oberförster Remmert verheirathet ist. Weißt Du nicht mehr, wie sie Hochzeit hatten?“

„Doch, doch, ich erinnere mich. Sie war ein hübsches Mädchen, hatte ein weißes Mullkleid an und weinte so schrecklich bei der Trauung.“

„Bei ihr bin ich gewesen bis jetzt.“

„Und nun?“ forschte Hortense.

Das klare Gesicht des Mädchens färbte sich wie Rosen. „Ich reise heute zu meiner Schwiegermutter, wo ich bis zu meiner Hochzeit bleiben werde.“

Hortense von Löwen sah lächelnd in die von inniger Seligkeit leuchtenden Augen. „Ich gratulire Dir herzlich! Und Deine Schwiegermutter lebt in Hohenberg?“

„Ja! Und er auch. Er ist praktischer Arzt dort, seit Kurzem; er war früher Assistent an der Klinik des Professor B. in H. Wie er sich dann mit mir verlobte, ließ er sich in Hohenberg nieder. Kennst Du Hohenberg?“

„Sehr gut. Ich lebe dort bei meinem Großvater.“

„Dann kennst Du auch Doktor Adler?“

Hortense schüttelte abweisend den Kopf. „Niemand!“ erwiderte sie„ „Wir leben sehr still, der alte Herr und ich; ich bin auch viel auf Reisen.“

„Und Dein Vater, Herr von Löwen – geht es ihm gut?“ fragte Lucie.

Hortense setzte sich mit einem Ruck etwas mehr in die Kissen zurück. „Hoffentlich!“ sagte sie kalt. „Da kommt übrigens der Schaffner, – darf ich Dir mein Portemonnaie anbieten? Die Dame wird nachzahlen auf der nächsten Station,“ wandte sie sich an den Beamten, „das Billet ist in der That verloren.“

Der Mann steckte ein Trinkgeld ein und empfahl sich ehrerbietig.

„Ach, ich danke tausendmal!“ stammelte Lucie.

„O, bitte sehr!“ gab Hortense zurück, griff zu ihrem Buche und begann zu lesen.

Der Zug raste weiter durch die sonnige Frühlingslandschaft. Im Koupé war es still geworden; Lucien’s Augen hingen an dem schönen Antlitz ihres Gegenüber, und vor ihrer Seele begann Scene auf Scene aus längst vergangenen Tagen aufzusteigen. Das blasse schmale Gesicht mit dem feinen Näschen, dessen Flügel beständig zu vibriren schienen, der schön geformte Mund, um den ein so hochmüthiger Zug liegen konnte, die stahlgrauen Augen, die in der Erregung grünlich zu schimmern vermochten, verschmolzen wunderbar mit dem Antlitz des kleinen Mädchens von damals, des wilden, schönen Kindes, das ihr ein lieber Spielgenosse gewesen und das jetzt wieder in ihrer Erinnerung lebendig wurde. Löwen’s waren eines Tages nach D. gekommen, hatten den ersten Stock ihres väterlichen Hauses gemiethet und dort gewohnt, Vater, Tochter und Erzieherin. Lucie erinnerte sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_002.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2023)