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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Nimmst Du eine Tasse Schokolade?“ fragte der alte Herr und ließ sich am Kamin nieder vor einem Tischchen, aus welchem eine wappengeschmückte zu Hälfte geleerte Mundtasse stand, neben einem Schachbrett, welches zum Spiel bereit gemacht war.

„Ich danke, Großpapa!“ Sie blieb ruhig vor ihm stehen.

„Wie ist’s geworden, Hortense?“

„O, nicht gar so schlimm, Großpapa; die Sache ist geordnet, aber es hat mich viel gekostet. Papa ist bereits unterwegs nach der Schweiz; er beabsichtigt in Genf zu leben.“

„Hortense, sage die Wahrheit, wie viel ist es? Konntest Du noch allen seinen Verpflichtungen nachkommen? War es noch nicht zu spät? Ist etwas bekannt geworden? – Es wäre furchtbar peinlich, Hortense! – Ließ sich Wirth beschwichtigen?“

„Mit Geld lässt sich Alles erreichen, Großpapa!“ sagte sie gleichgültig.

„Schenke mir klaren Wein ein! Wie groß ist das Opfer, das Du bringen mußtest?“

„So groß, daß ich Dillendorf zum Verkauf gestellt habe.“

Der alte Herr erblaßte und fuhr empor. „Das durftest Du nicht!“ rief er erschreckt.

„Was sollte ich machen, Großpapa? Es war nur eine Wahl – Schande oder Trennung von Dillendorf!“

„Der Ehrlose!“ murmelte der alte Mann und fuhr sich mit dem seidenen Taschentuch über die Stirn. Eine lange Pause entstand. Sie lehnte jetzt wie schwach am Kamin mit zusammengepreßten Lippen.

„Ist ein Brief hier von Wilken?“ fragte sie endlich zögernd.

„Jawohl! Jawohl! Oben in Deinem Zimmer,“ erwiderte Herr von Meerfeld.

Es war, als athme sie auf „Ich hatte seit acht Tagen keine Nachricht,“ sprach sie, „obgleich ich ihm meine Berliner Adresse geschrieben. Ich will hinauf und mich umziehen. Und, bitte, Großpapa, sprich nicht mehr von Dillendorf, es ist mir so schwer, daran zu denken.“

„Seit zweihundert Jahren gehört es den Löwens,“ jammerte der alte Herr. „Wie hat Dein verstorbener Mann daran gehangen! Und durch diesen ehrlosen Menschen muß es verloren gehen!“

Hortense wurde dunkelroth. Der Ehrlose war ihr Vater. „Ja,“ sagte sie, „es war mir auch, als wenn ein Stück von meinem Herzen losgerissen wurde, da ich dem Agenten Auftrag zum Verkaufe gab. Aber nun sei still davon – es ist nicht anders.“

„Du konntest Hypotheken aufnehmen!“

Sie schüttelte den Kopf. „Du weißt nicht, wie viel schon darauf lastet. Es ist doch nicht das erste Mal, daß ich in solcher Angelegenheit zu Papa reise.“

„Und Hortense, wenn nun Wilken mit seinem Vermögen eingesprungen wäre?“

„Ich hätte es niemals angenommen! Sollte ich zu ihm gehen und sagen: ,Mein Vater hat betrogen‘? – Ich will ihm nur schreiben, und zwar nachher gleich, daß ich große pekuniäre Verluste gehabt habe.“

„Wird ihn sehr erheitern,“ meinte der alte Herr ironisch.

„Er ist kein Mensch, der Ansprüche an das Leben macht.“

„Ja, so, ich weiß, er ißt Abends Butterbrot und Käse und hält Austern für ein ekelhaftes Futter. Aber dennoch! – Du hast zwar das Vermögen Deiner Mutter, aber was ist das gegen Dillendorf und die Summen, die auf so unerhörte Weise verlumpt sind!“

„Ich soll Dich von der Baronin Santen grüßen,“ unterbrach ihn die junge Frau rasch und nahm ihren Schirm vom nächsten Stuhl, um zu gehen.

„Hortense! Hortense!“ rief ihr der alte Mann nach, „erzähle doch, wo war sie? Wie sah sie aus?“

„Ich komme bald wieder; nur eine halbe Stunde der Ruhe!“

Sie schloß die Thür und ging durch den riesenhaften Flur die breite Holztreppe hinan zum obern Stock. Ein ältliches Stubenmädchen öffnete in dem langen Korridor eine Thür, und sie trat nun in ihr eigenes Wohnzimmer. Es war ein hohes weites Gemach mit mächtigem Balkenwerk unter der Decke, Wandtäfelungen und reich vergoldeter Ledertapete aus längst vergangener Zeit. Die vielen bequemen Polstermöbel modernen Ursprunges, der reiche Smyrnateppich, der den Boden deckte, nahmen sich fast fremdartig darin aus. Die Fenster waren geschlossen, und durch das Laub der Rüstern drang ein seltsam grünliches Licht in den Raum, das noch durch schwere türkische Vorhänge gedämpft wurde. Auf der Platte des großen Schreibtisches, der schräg gestellt die eine Ecke ausfüllte, lag ein Brief. Hortense kam hinüber und betrachtete das Schreiben, ohne es zu berühren, legte Hut und Schirm ab und stellte sich mit verschränkten Armen vor ein lebensgroßes Männerportrait, welches neben dem Schreibtisch an einer Staffelei seinen Platz gefunden hatte.

Es war ein grenzenlos trauriger Ausdruck in ihren Augen. „Ein Ehrloser!“ murmelte sie, „es thut so wehe, so furchtbar weh! Und ich weiß doch, wie kein Anderer, daß es wahr ist!“ Ihre Stimme war allmählich lauter geworden; sie hatte die Hände an die Schläfe gepreßt, die letzten Worte klangen wie ein Wimmern.

Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sah den Brief an. Einmal streckte sie die Hand danach aus, zog sie aber wieder zurück und saß eine lange Zeit, ohne sich zu rühren. Endlich nahm sie doch das Schreiben, erbrach es und las. Schon nach den ersten Zeilen richtete sie sich aus ihrer nachlässigen Stellung auf, und je weiter sie las, desto starrer wurde die Haltung ihres Kopfes, desto höher die Röthe ihrer Wangen. Sie las das Blatt noch einmal und lachte laut auf. „Natürlich!“ sagte sie, und ihre Augen funkelten, „es ist zu komisch, es ist zum Todlachen!“ Sie sprang empor und stürmte, den Brief in der Hand, durch den Korridor, die Treppe hinunter, in das Zimmer des alten Herrn.

„Noch eine Neuigkeit, Großpapa!“ rief sie mit gezwungener lauter Stimme. Der alte Herr fuhr aus leichtem Schlummer in seinem Lehnstuhl empor und sah die vor ihm Stehende blöde an.

„Eine Neuigkeit? Doch eine gute, Hortense?“

„In der That, Großpapa – meine Verlobung mit Wilken ist aufgehoben!“ Sie lachte wieder, und dabei bebten ihre Schultern wie im Fieber.

„Aber, Hortense, das ist vorschnell von Dir, das ist verkehrtes Anstandsgefühl! Was gehen ihn die Streiche Deines Vaters an? Ich bitte Dich, Hortense, schicke den Brief nicht ab, redressire die Sache!“

„Ich?“ rief sie laut. „Er sagt den Handel auf, hier hast Du es schwarz auf weiß – da! Papa hat irgend etwas mit ihm vorgehabt; er drückt sich so zart, so schonend aus! Ich denke mir, Papa hat, wie schon öfter, einmal sein Glück im Spiele zu bessern gesucht. Wahrscheinlich hat man ihn dabei ertappt, und – wie komisch – gerade Wilken’s Kameraden müssen ihn abfassen! Nicht wahr, es ist lächerlich, Großpapa? Ich begreife nicht, daß Du –”

Der alte Mann haschte nach ihrer heftig gestikulirenden Hand. „Hortense, mein armes liebes Kind,“ sagte er weich, „sei ruhig, um Gotteswillen! Gräme Dich nicht, Hortense, hörst Du? Weine nicht! Wer Dich so leicht aufgiebt, ist keiner Thräne werth.“

„Ich weine ja nicht!“

„Es ist wahr, Kind, es wäre am Ende besser, Du weintest! Deine selige Mutter, meine arme Agnes, die konnte sich alles Leid von der Seele weinen. Bitte, Hortense, lache nicht so! Ich kann es nicht hören; es ist unnatürlich,“ fuhr er angstvoll fort, als die junge Frau von Neuem lachte. „Du weißt, ich konnte Wilken nie leiden, und Du bist noch so jung und schön; der Rechte wird noch kommen.“

Sie hatte aufgehört zu lachen und wandte sich zum Gehen, die Ohren mit ihren Händen zuhaltend.

„Bleibe noch ein wenig bei mir!“ rief er ihr nach.

Sie schüttelte abweisend den Kopf und eilte in ihr Zimmer zurück, ohne auf die angstvollen Rufe des alten Herrn zu achten.

Er fuhr nervös mit seinem Taschentuch im Gesicht umher, stieß beim Aufstehen die Wappentasse um, aus der er vierzig Jahre getrunken, daß sie klirrend zerbrach, und riß so heftig an der Klingelschnur, daß er die Quaste in der Hand behielt.

„Die Bertin soll kommen!“ schrie er dem Diener zu. Und bald darauf erschien eine kleine starke Dame, die Blässe des Schreckens auf dem vollen Gesicht und so athemlos, daß sie nicht sprechen konnte. „Bertin“ jammerte er, sie mit zitternden Händen am Aermel fassend, „Bertin, eilen Sie! Schnell, schnell! Madame ist in Verzweiflung – sie hat schlechte Nachrichten – Sie wissen, mein Herr Schwiegersohn!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_006.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2023)