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verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Eine merkwürdige Visitenzeit!“ meinte die Mutter.

„Aber es ist vollständig guter Ton,“ wandte Lucie ein und knöpfte ihre Handschuhe.

„Auf dem Lande vielleicht oder unter sehr intimen Freunden – sonst geht man hier Punkt Schlag zwölf Uhr.“

Lucie zögerte noch ein Weilchen in der Hoffnung auf ein freundliches Wort, als aber nur Tante Dettchen verstohlen nickte und die Schwiegermama mit ihrem unbeweglichen Antlitz so emsig weiter strickte, als gelte es das tägliche Brot zu verdienen, sagte sie noch einmal „Adieu!“ und ging. Sie hatte keinen weiten Weg längs der hohen Mauer, welche an das Haus grenzte, das die Schwiegermutter miethweise bewohnte. An dem großen Thore, das in die Mitte dieser Mauer eingesägt war, zog sie die Klingel, auf deren Porcellangriff zu lesen stand: „Alexander von Meerfeldt.“ Ein alter Diener öffnete die kleine Thür in dem mächtigen Thorflügel und ließ sie eintreten. Kühler Schatten umfing sie und eine tiefe Stille, selbst die Schritte des alten Mannes verklangen auf dem Grase, das üppig zwischen den Pflastersteinen des Hofes wuchs. Vor ihr lag das zweistöckige Haus mit den unregelmäßigen Fensterreihen und dem Treppenthurm, dessen spitzes Ziegeldach eine reich verzierte Wetterfahne schmückte. Rechter Hand ein Gebäude, das Stallungen und Dienerwohnung zu enthalten schien, links, nur durch ein Staket abgegrenzt, befand sich die grüne Wildniß eines Gartens, dem anscheinend lange die Scheere des Gärtners ferngeblieben war. Lucie sah mit Entzücken die dämmerigen Laubgänge und üppigen Boskets, es erinnerte sie an den Wald daheim. Sie war dem Diener gefolgt, dem sie ihre Karte eingehändigt, und stand nun im weiten Hausflur, während er leise an eine Thür pochte und dann eintrat.

Nach einigen Minuten erschien eine kleine, unendlich korpulente Dame auf der Schwelle, in braunem Wollkleide, dessen Machart an eine Kapuzinerkutte erinnerte, sie trug eine schwarze Spitzenhaube mit mächtiger hochrother Schleife auf dem stark ergrauten Haar, das ihr nach neuester Mode in die Stirn hing, und streckte dem Mädchen beide Hände entgegen.

„Lucie, mon ange! Welche Ueberraschung!“ rief sie exaltirt. „Wie ist es möglich! Sie hier? – Entrez! Wie schön sind Sie geworden! – Und Sie erinnern sich unser noch? Wie kommen Sie hieher? Das müssen Sie mir erzählen!“

Und im nächsten Augenblick befand sich Lucie im Zimmer der Mademoiselle Bertin und in ihren Armen.

„Zu Hortense wollen Sie?“ schluchzte die lebhafte kleine Person. „O Lucie, vielleicht ist es ein Wink vom Himmel! – Sie will Niemand sehen, sie hat mich förmlich davon gejagt, sie – o, ich kann Ihnen nicht sagen – sie hat Kummer, großen Kummer, aber sie ist noch immer so unnahbar wie früher. Noch eben hat sie mir das Versprechen abgenommen, sie nicht zu stören in den nächsten drei Stunden, und ich vergehe hier unten vor Todesangst.“

Lucie hatte sich während dieses Jammerns auf einen Stuhl gesetzt, und Mademoiselle hatte ihr am Theetischchen ein Glas Orangewasser gemischt und ein Biscuit gebracht. „Kind, Sie sehen mich staunend an? Ich bin alt geworden, Lucie, o ja. Ach! ich weiß es, der viele Kummer! Solche Aufregungen, wie ich sie hier erlebe mit Hortense – –“ Sie drückte das Tuch vor die Augen, warf sich in einen der tiefen mit geblümtem Kattun bezogenen Lehnstühle und schluchzte zum Erbarmen.

„Was ist’s mit Frau von Löwen?“ fragte erschreckt das junge Mädchen.

O ciel! Wenn ich es sagen dürfte!“ klagte die alte Dame, „aber ich kann nicht; vielleicht erzählt sie es Ihnen. Thun Sie mir die Liebe, gehen Sie zu ihr, es wäre möglich, daß Sie, wie schon als Kind, einen guten Einfluß auf sie hätten. O, ich weiß noch, Mademoiselle Lucie, sie hatte Sie gern, sie hatte ein tendre für Sie und wird liebenswürdig sein, wenn Sie kommen. Gehen Sie hinauf, ich bitte Sie darum!“

„Aber wenn Frau von Löwen allein sein will?“ wandte Lucie peinlich berührt ein.

„O, sie hat entsetzliche Kapricen; sie ängstigt mich halb zu Tode zuweilen, sie will mich nicht sehen und den Baron nicht – aber Sie, wer weiß das? – Denken Sie,“ fuhr Mademoiselle Bertin fort, „seit gestern Abend hielt sie sich eingeschlossen. Heute Mittag, nachdem ich alle halbe Stunden oben war, treffe ich sie endlich im Wohnzimmer; sie sieht aus wie der Tod, hat Schatten unter den Augen so groß, und zerreißt da alte Briefe; sie war so eifrig, daß sie mich nicht gewahrte und auch nicht merkte, daß ich den Schlüssel abzog von ihrer Thür, – vous comprenez – es ist so gräßlich, wenn man nicht eingelassen wird. Ich versuchte mit ihr zu reden, da sagte sie aigrirt: ‚Lassen Sie mich allein, Mademoiselle, ich bitte, daß Sie nicht vor heute Abend mein Zimmer wieder betreten. Dieses ewige Nachfragen regt mich auf! Sagen Sie das auch dem Großpapa!‘ – Que faire? Ich mußte sie verlassen!“

Lucie versprach hinauf zu gehen. Vorher aber mußte sie noch erzählen, wie sie nach dem „ganz miserablen Ort“, dem Hohenberg, verschlagen sei, und die exaltirtesten Glückwünsche zu ihrer Verlobung über sich ergehen lassen, immer unterbrochen durch Klagen und Weinen. „O Mademoiselle, welches Leben führe ich, ich, die ich in Paris geboren bin! Sehen Sie diese Aussicht auf den stillen Hof, der Blick von meinem Schlafzimmer in den verwilderten todeseinsamen Garten hinein ist noch trister; hier geht doch wenigstens einmal der Stallknecht über die Bühne oder der Briefträger. Da wohne ich hinter diesen Mauern wie in einem Kloster; auf die Straße gehe ich nicht gern, sie ist so entsetzlich schmutzig, und von einem Verkehr ist keine Rede. Die Leute sind alle so plump, so wenig chic. Mein einziger Trost war noch immer Monsieur le docteur; nun ist er krank, hoffnungslos, wie es heißt, und zu dem jungen Mann, Ihrem Bräutigam, habe ich mich immer noch nicht entschließen können. Es ist sehr peinlich, wenn der Arzt so jung – es ist genant. Aber, mille pardon, der Baron wartet!“ Sie warf einen Blick auf die Uhr vor dem Spiegel und sprang auf. „Die Schachpartie, ma petite; ich muß Sie bitten, mich zu verlassen; er ist mauvaise humeur, wenn er warten muß.“

Sie hatte während dieses Sprechens eifrig die Nägel ihrer wirklich gut gepflegten Hände betrachtet. Nun reichte sie die Rechte dem jungen Mädchen: „Gehen Sie zu ihr, Lucie!“

„Und Sie meinen, ich soll gegen alle Erlaubniß bei Frau von Löwen eindringen?“ fragte Lucie noch einmal.

„Sie thun ein Werk der Barmherzigkeit, je vous en prie –. Bitte, diese Treppe hinauf,“ flüsterte sie im Hausflur, „dann links den Korridor entlang die vorletzte Thür. Treten Sie gleich ein, sie antwortet nicht auf ein Klopfen.“

Lucie stieg zögernd die breiten Stufen empor, während Mademoiselle durch den Flur in das Zimmer des alten Herrn eilte. Ihr war ganz und gar nicht behaglich zu Muthe, die Rolle eines Eindringlings hatte sie noch nicht gespielt; sie war ihrem schüchternen bescheidenen Wesen völlig fremd. Trotzdem trieb es sie vorwärts, sie wußte selbst nicht warum? War es das Verlangen, der Jugendgespielin zu danken? Oder die unbestimmte Besorgniß, welche die wunderliche Französin in ihr wachgerufen? Oder die Opposition gegen ihre Schwiegermutter und das doppelte Interesse, das sie für die so geschmähte Gefährtin einer glücklichen Spanne Zeit empfand? – Sie stand eben vor der bezeichneten Thür, drückte die Klinke und trat ein.

Ein brenzlicher Geruch wie von verbranntem Papier, verbunden mit einem leichten Rauch, füllte das weite behagliche Gemach. Hortense war nicht darin. Lucie sah zum ersten Male das Zimmer einer vornehmen Dame, und im ersten Augenblick fesselten sie die tausend eleganten Dinge, die es schmückten. Statuetten, Majoliken, wunderliche kleine Möbel, schwere Vorhänge, der weiche Smyrnateppich, der den ganzen Boden bedeckte, auf welchem Fauteuils von allen Formen umher standen; das kostbare persische Gewebe, das nachlässig über die Chaiselongue geworfen war, die getrockneten Palmenwedel in den Vasen, die zierlichen Nippes aus Terracotta und Vieux-Saxe, und über dem Schreibtische das lehensgroße Pastellbild einer blonden jungen Frau, an der Hauptwand, über dem behaglichen Arrangement von Sofa, Tischchen und Fauteuils, zwei große Oelbilder, Seestudien – einmal das empörte Meer in Gewittersturm, das andere Mal die stille See bei Sonnenuntergang.

Lucie stand während mehrerer Minuten regungslos und betrachtete dies Alles; dann wandte sie sich zum Gehen. – Ob sie wiederkommen durfte? dachte sie und nahm aus dem kleinen Notizbuch, das sie in der Hand trug, eine Visitenkarte, schrieb mit Bleistift: „Herzlichen Dank“ darauf, legte sie auf den Tisch und schob das Zwanzigmarkstück darunter. Nach einem Augenblick besann sie sich anders und trug es auf den Schreibtisch. Sie war jetzt nahe der Schlafzimmerthür, die nur angelehnt schien,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil's Nachfolger, 1887, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_023.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2023)