Seite:Die Gartenlaube (1887) 038.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Zahnschmerzen – sie hatte aus Versehen – – nein! Nein! Sie wollte sterben! – Lucie ergriff das schreckliche Tuch und die geleerte Flasche und warf Beides aus dem Fenster; selbst halb betäubt nahm sie Kissen und Decken fort – da war ein Wandschrank, hinein damit! Und das andere Fenster noch auf – gottlob, Zugluft! Sie trug einen ganzen Strom von Fliederduft in das Zimmer und umspielte das blasse Gesicht, das unbeweglich auf dem Pfühl lag.

Und nun noch den Brief vom Nachttisch dort – „An meinen Großvater Herrn Alexander von Meerfeldt –“. Lucie steckte ihn in die Tasche ihres Kleides und riß am Glockenzug; wie Sturmläuten hallte der Ton in dem stillen Hause wieder. Sie rieb eben die Schläfen Hortense’s mit Kölnischem Wasser, als das Stubenmädchen hereinstürzte und hinter ihr die Stimmen von Mademoiselle und dem alten Herrn laut wurden.

„Lassen Sie den Arzt rufen,“ sagte Lucie ruhig, „sie ist ohnmächtig geworden.“

Die Klagen der beiden alten Leute verstummten; scheu traten sie an das Lager und sahen in das blasse stille Gesicht.

„En vérité nur eine Ohnmacht?“ fragte Mademoiselle.

„Hortense, mein Kind,“ flüsterte leise der alte Herr und hob ihre Hand, welche schwer wieder niederfiel.

„Mon dieu, sie stirbt!“ weinte die kleine Französin.

„Wenn Alfred doch käme!“ seufzte das Mädchen. „Barmherziger Gott, laß ihn zu Hause gewesen sein!“ betete sie leise. Jetzt glaubte sie seinen Schritt auf dem Korridor zu erkennen. Sie lief zur Thür hinüber, in welche der junge Arzt eben treten wollte. „Komm!“ rief sie, ihn zurückdrängend, „ich habe Dir etwas zu sagen.“

„Du zitterst, Lucie?“

„Ja!“ erwiederte sie mit versagender Stimme, „ich habe – ich fand Hortense von Löwen, wie sie – als sie – sie hatte Chloroform; Alfred, laß Dir nichts merken! Sie wollte, glaube ich – sie hatte einen großen Kummer erfahren gestern – und da –“

Er faßte ihre Hände. „Beruhige Dich, Lucie; was thatest Du zunächst?“

„Ich habe ihr das Tuch vom Gesicht genommen und die Fenster geöffnet, und –“

„Sie ist bewußtlos?“

„Ja! Ja! Ach, sage nicht, was sie gethan – sage, sie wäre ohnmächtig, Alfred!“

Er strich ihr liebkosend über das Haar und sah sie gerührt an. Sie merkte es nicht; sie bebte an allen Gliedern; jetzt, wo sie ihn an ihre Stelle treten sah, wollten die Kräfte weichen. „Setze Dich,“ bat er und drückte sie in einen Sessel, „werde ruhig; Du hast es brav gemacht, Lucie.“

Er nickte ihr zu und ging in das Schlafzimmer, dessen Thür offen blieb.

Es dauerte nicht lange, als Mademoiselle ebenfalls zurückkehrte. „Sie wird erwachen!“ rief sie. „Gott sei gelobt, es ist eine simple Ohnmacht. Himmel, wie oft fiel ich als junges Mädchen in Ohnmacht! Und deßhalb gleich solchen Lärm? Liebste, Sie klingelten ja, als ob es brenne oder ein Mord geschehen sei; den Schreck werde ich nie vergessen, jamais!“

„Ich möchte nicht, daß sie mich hier erblickt,“ hörte Lucie jetzt ihren Bräutigam sagen; „es wäre auch vielleicht besser, wenn Mademoiselle und der Herr Baron beim Erwachen nicht zugegen sind. Je weniger man aus solcher Geschichte macht, desto besser ist es für die Patienten.“

„Aber Jemand muß hier sein,“ sagte Mademoiselle auf den eintretenden Arzt zugehend, „und ich weiß, das Stubenmädchen darf sich nicht ungerufen in ihrer Nähe aufhalten.“

„Ich will hier bleiben, Alfred,“ rief die kleine Braut; „ich thue, als ob ich eben gekommen wäre, oder –“

„Es ist das Beste!“ stimmte er bei. „Sollte Frau von Löwen sehr unruhig werden, so laß mich rufen.“

Sie trat mit ihm in den Korridor hinaus.

„Welch furchtbare Kämpfe mögen vorangegangen sein, ehe sie soweit kam!“ flüsterte das Mädchen und schmiegte sich an ihn.

„Sie ist nervös und exaltirt, Kind,“ erwiederte er gelassen. „Derartiges kommt öfter vor als Du glaubst. Sorge nur, daß sie nicht allzusehr über ihren kopflosen Streich nachdenkt; sei unbefangen, erzähle ihr etwas! Du mußt mir schon einmal helfen, Lucie.“ Er küßte sie zärtlich auf die Stirn und drängte sie, hineinzugehen. „Mache, daß es bald ruhig wird,“ bat er.

Lucie saß schon über eine Viertelstunde in einem der tiefen Lehnsessel des Salons und schaute unverwandt durch die geöffnete Thüre des Schlafzimmers auf das Lager der jungen Frau. Sie waren Alle, dem Befehle des Arztes gemäß, hinausgegangen. Auf einem Tischchen stand Wein und ein Imbiß bereit. Man hatte eins der Fenster wieder geschlossen, und nun schien es, als schlummere dort süß und friedlich ein müdes Menschenkind, treu bewacht von einem anderen, und die Dämmerung des Frühlingsabends füllte die Räume, und im Garten schlugen die Nachtigallen.

Hortense rührte sich nicht; Lucie aber sah, daß sie mit großen offenen Augen dalag; noch mochte ihr das Geschehene nicht klar sein. Endlich setzte sie sich auf dem Lager auf und sah sich um, die Hände an den Schläfen; dann begann sie nach etwas zu suchen.

„Hortense,“ rief das junge Mädchen, „darf ich eintreten? Du schliefst so schön, ich wollte Dich nicht wecken; ich warte schon eine ganze Weile hier, um Dir nochmals zu danken für Deine gestrige Freundlichkeit.“

Sie war während dieser Worte zu dem Bette getreten und griff nach der Hand der Kranken.

Aus dem weißen Antlitz der jungen Frau starrten durch die Dämmerung zwei große erschrockene Augen zu dem schlanken Mädchen empor, als sei es ein Gespenst; aber Hortense antwortete nicht.

„Laß Dich nicht stören, Hortense, und nimm es mir nicht übel, wenn ich Dich so im Schlafe überfallen habe; ich wurde hierhergewiesen. Bist Du mir böse? Du kennst mich doch – Lucie Walter?“ Sie setzte sich auf den Bettrand und legte den Arm um die Schulter der Kranken. „Meine gute, liebe Hortense,“ sprach sie innig.

„Du!“ sagte die junge Frau und stieß den Arm zurück. „Wozu verstellst Du Dich denn und wozu lügst Du? Wozu kommst Du heute hierher?“

„Es war so gut, daß ich kam, Hortense!“

„Sehr gut – wie man es nimmt. Aber, ich bitte, bemühe Dich nicht weiter um mich; höchstens sage mir doch, wie spät war es, als man Dich herein wies?“

„Es war gegen halb sechs Uhr.“

„Und jetzt?“

„Ist es halb acht.“

„Wer hat Dich angemeldet? Wer war zuerst an meinem Bette?“

„Niemand! Ich fand Dich so,“ erwiderte das Mädchen, jedes Wort betonend.

„Du?“

„Ja, ich, Hortense.“

„Und die Andern?“

„Sie denken, wir plaudern zusammen.“

Hortense schwieg. „Geh,“ sagte sie dann, „vergiß das! Bedanken kann ich mich nicht; es ist zu bitter, was Du mir gethan.“

„Nein, ich gehe nicht,“ versetzte das junge Mädchen, obgleich Hortense sich herum warf, das Gesicht in die Kissen barg und die schmalen Hände in das Haar krallte. Sie blieb ruhig sitzen und begann leise zu sprechen: „Es ist doch merkwürdig, daß wir uns gestern trafen, nicht, Hortense? Mir ist dadurch die Kinderzeit wieder so lebendig geworden. Erinnerst Du Dich noch an Pet, an Papa’s kleinen Affenpinscher? Wie treu das kleine Thier war und wie drollig es aussah in der Ziegenbockequipage! Ich könnte das Fleckchen malen, wo wir ihn begraben haben unter vielen Thränen. Weißt Du noch, wie wir einmal umwarfen und Du Dir ein Loch in die Stirn fielst, das mein Vater nähen mußte? Du klammertest Dich so fest an meine Mutter, und ich weinte erbärmlich mit. Ach, meine liebe, unvergeßliche Mutter – gelt, sie war seelensgut, Hortense? Manchmal, wenn ich Abends im Bette liege, ist es mir vor dem Einschlafen, als streiche ihre Hand über mein Gesicht, und dann muß ich weinen. Geht es Dir nicht auch so?“

Hortense wandte sich um. „Nein!“ sagte sie, die Hand zur Faust geballt; „ich werde zornig, wenn ich an Mama denke, denn man hat sie zu Tode gequält, ins Grab gekränkt und mich um das einzige Wesen betrogen, das mich wirklich liebte!“

„Hortense, so spricht doch keine Braut!“ sagte das Mädchen vorwurfsvoll.

„Braut?“ lachte sie höhnisch. „Braut?“

Lucie schwieg erschreckt.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1887, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_038.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)