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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Gieb mir ein Glas Wein,“ bat die junge Frau. Lucie brachte es ihr; sie trank es mit einem Zuge leer. „Kennst Du noch die alte Baronin Luboska?“ fragte sie dann.

„Die schreckliche Person, der alle Kinder nachliefen, weil sie gewöhnlich betrunken war?“

„Ja! Sie hatte es sich angewöhnt, das Trinken, als ihr Mann sie verließ. Ist es nicht besser – todt, als so zu verkommen? Ich kann die Frau seit gestern nicht aus den Gedanken los werden. Gieb mir noch ein halbes Glas, Lucie.“

„Nein!“

„Wie Du besorgt bist! Aber einen andern Gefallen thue mir; hier lag ein Kouvert, lies mir den einen der beiden Briefe, die es enthält, noch einmal vor. Du wirst es an Dich genommen haben.“

„Ja, hier ist es,“ sagte Lucie und nahm es aus ihrer Wäsche. „Ich dachte, es wäre ein Abschied von Deinem Großvater.“

„Natürlich! Aber ein Schreiben an mich liegt noch darin, er sollte es aufbewahren – für meinen Vater, da lies, es ist das weiße starke Papier.“

„Morgen, Hortense, es erregt Dich vielleicht aufs Neue.“

„Lies!“ klang es bestimmt.

Und Lucie las:

 „Theuerste Hortense!

Wie namenlos schwer es mir wird, Dir diese Zeilen zu schreiben, vermag ich nicht auszudrücken. Du weißt, wie ich Dich liebe, und wirst daher den Schmerz begreifen, der mich erfaßt, und glauben, daß mich nur die eisernste Nothwendigkeit zwingt, Dir Dein Wort zurückzugeben. Wir müssen uns trennen, Hortense. Warum? – Dein Vater! Ich wage es nicht, der Tochter die bitteren Beschuldigungen zu schreiben, die ihn treffen; auch glaube ich fast – Du bist nicht unvorbereitet. Meine Stellung – Du wirst begreifen –“

„Hör’ auf!“ unterbrach Hortense die Lesende.

„Meine arme, liebe Hortense!“ schluchzte das Mädchen, am Bette niederkniend.

„Früher konnte ich auch weinen,“ murmelte die junge Frau. „Steh’ doch auf! – Ach, ich hatte das Ganze so satt – hättest Du mich doch schlafen lassen! Alle, die ich lieb gehabt, haben mich betrogen, mir mit Haß und Undank gelohnt; Mißtrauen und Verachtung haben sie mich gelehrt.“

Lucie schluchzte leise fort. Sie dachte an das wilde sonnige Kind, das so zärtlich am Halse des Vaters gehangen, das so schwärmerisch von ihrem wunderschönen Papa gesprochen. Und sie sah vor sich eine blasse, verzweifelnde Frau, die ans Sterben dachte – dieses Vaters wegen!

„Ich bin sehr müde,“ klagte Hortense.

„Schlafe, ruhe aus,“ bat das Mädchen und legte die Kissen zurecht.

„Gieb mir Deine Hand, Lucie, bleib’ bei mir, bis ich eingeschlafen bin. Komm wieder morgen; Deine Stimme beruhigt mich. Nein, nein, Du sollst nicht hier wachen; Minna kann dort drinnen auf dem Sofa sitzen.“ Sie hielt die kleine Mädchenhand fest in der ihrigen. „Weine doch nicht,“ sprach sie noch einmal. „Kannst Du mich jetzt verstehen?“ Und nach einer Pause, als Lucie glaubte, sie schlafe längst: „Es hat mir so wohlgethan, mit Dir zu sprechen, Lucie. Weißt Du noch, Lucie, in Eurem Garten sangen die Nachtigallen eben so schön.“

Sie sprach noch weiter, leise, unverständlich, und endlich schlief sie.

Auf den Zehen schlich das Mädchen hinaus, die Dienerin saß in einem Lehnstuhl vor der Salonthür. Lucie schickte sie hinein mit den nöthigen Anweisungen und ging.




Die Herrschaft sei im Garten, sagte das kleine magere Dienstmädchen der Frau Steuerräthin. Lucie tastete die finstere Treppe wieder hinunter und kam durch das Gärtchen in die Laube.

„Bist Du es?“ fragte der Bräutigam und trat ihr entgegen. „Hast Du Mutter und Tante nicht getroffen? Sie sind ausgegangen, um Besorgungen zu machen! Vor allen Dingen aber, wie geht es nebenan?“

Sie lehnte statt aller Antwort den Kopf an seine Schulter und weinte.

„Was ist’s denn? Hast Du mit ihr gesprochen?“

Sie nickte. „Ihr Bräutigam hat ihr abgeschrieben,“ flüsterte sie, „ihres Vaters wegen.“

„Armes Weib!“ sagte er mitleidig. „Hast Du ihr zugeredet, sie ausgescholten wegen des kopflosen Streiches, Du kleine praktische Samariterin?“

„Ja, Alfred; – nicht wahr, ich hatte Dir überhaupt Alles recht gemacht?“

„Und ob!“ gab er lächelnd zu, „ich wußte es ja gleich, als ich Dich zum ersten Male sah, daß Du eine prachtvolle Doktorfrau sein wirst.“

Sie schmiegte sich noch inniger an ihn. „Wo war das? Sprich!“ forschte sie. „War es nicht an Mathildens Krankenbette?“

„Nein, bewahre! Wie Du der Rike die schlimme Hand verbunden hast.“

„Ach ja,“ sagte sie, „und das hat Dir so imponirt?“

„Freilich! Und fast noch mehr der delikate Rehbraten, den Du in Stellvertretung der Patientin gemacht hattest.“

„Ach pfui, wie materiell, Alfred!“

„Aber erlaube gütigst,“ neckte er, „wenn eine gelungene wirthschaftliche Leistung dem Manne nicht imponiren soll – da möchte ich wissen, was sonst!“ Er klopfte ihr die Wange und küßte sie. „Was mir so imponirt, ist Dein goldenes Gemüth, Deine waldfrische Natürlichkeit“ – dachte er. Aber es kam nicht über seine Lippen: er gehörte zu Denen, die Alles, was sie für geliebte Menschen im Herzen tragen, in sich verschließen, es nicht auszusprechen vermögen und darum für kalt gehalten werden – für gefühllos. Nur durch ein langes, langes Beisammensein ein förmliches Studiren, lernt man sie verstehen und doppelt schätzen.

Stumm saß sie neben ihm. Sie dachte so hoch, so groß, so ideal von der Liebe; sie fand es so begreiflich, daß man sterben müsse, wenn man den Gegenstand seiner Liebe verlieren sollte. Ob er mich so liebte? fragte ihr junges Herz. Und sie sah träumerisch in den bläulichen Mondenglanz hinaus.

Nach ein paar Minuten kam die Schwiegermutter den Weg entlang. Sie erwiederte leichthin den Gruß des Mädchens und blieb am Eingang der Laube stehen.

„Findest Du es nicht auch praktischer, Alfred,“ fragte sie mit ihrer schrillen Stimme, „wenn der Sattler das Sofa in unserem Hause umpolstert? Er stiehlt sonst die schönen Roßhaare, wenn wir es ihm hingeben, es steckt ganz voll davon, es stammt aus der Zeit meiner seligen Mutter, wo man die Leute noch nicht betrog mit Lumpen oder Seegras.“

„Gewiß, Mutter, gewiss!“ bestätigte er freundlich.

„Gute Nacht, Alfred! Komm, Lucie,“ sagte sie kurz, „man wird wieder nicht schlafen können vor Nachtigallensingen und Froschgequak. Hätte ich ’s nur geahnt, die Wohnung an dem verwünschten Garten hätte ich nicht genommen.“

Lucie blickte förmlich entsetzt in das Gesicht des Bräutigams; er lächelte.

„Ob die Frau jemals jung gewesen?“ dachte das Mädchen. Und sie stand lange, lange am offenen Fenster ihres Stübchens und sah hinaus in den Silberflimmer dieser Frühlingsnacht. Der Mondesstrahl, der die kleine Photographie der Schwester auf der Kommode beleuchtet hatte, lag schon schmal an der niedrigen weißgetünchten Decke, als sie ihr Lager aufsuchte.

Sie schlief noch kaum, da schrillte eine Glocke durch das Haus. Mit klopfendem Herzen fuhr sie empor und horchte. Nach einem Weilchen hörte sie Alfred’s Schritte auf der Treppe und wie er die Hausthür aufschloß. Nun sprach eine fremde Stimme; sie hörte, wie er erwiederte.

„Ich komme sofort!“

Wohin mochte er geholt worden sein? Sie schloß die Augen und vergegenwärtigte sich, wie er so ruhig an das Krankenbett trat, und hörte seine freundliche Stimme, mit der er fragte, tröstete, beruhigte. „Er ist so gut,“ flüsterte sie und faltete die Hände über der Brust. Und sie blieb wach, bis er nach Stunden zurückkehrte.




Es wurde frühzeitig Tag im Hause der Frau Steuerräthin. Die Familie saß um halb sieben Uhr bereits am Kaffeetisch; Tante Dettchen in rothbarchentener Nachtjacke und Steppunterrock und die Nachthaube auf den dünnen Zöpfchen. Das vermochte sie sich nun einmal nicht abzugewöhnen trotz aller beißender

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_039.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2023)