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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


mich kindisch auf dieses ‚zu Hause‘. Mein Vater war auf dem Bahnhofe und holte mich ab. Er schien verlegen, die Bertin aber kam mir mit verweinten Augen entgegen und nannte mich in der Stille meines Zimmers ‚pauvre enfant, pauvre petite!‘ was ich anfänglich gar nicht begriff.

Als wir zu Mittag speisten, erzählte mein Vater, er habe Abends eine kleine Gesellschaft, ich solle aber ruhig schlafen gehen. Ich sah im Laufe des Nachmittags, wie eine Tafel gedeckt wurde; es kamen Körbe voll Wein und Champagner aus einem Hôtel, und Kerzen wurden in großer Zahl aufgesteckt. Warum durften Bertin und ich nicht mitspeisen? Ich hatte mich so namenlos auf den Eintritt in die Geselligkeit gefreut. Die Bertin aber, still gegen ihre Gewohnheit, setzte einen kleinen Imbiß für uns zurecht und bereitete den Thee. Zur Zeit, als die Gäste kommen sollten, hörte man auf dem Korridor Sporen klingen, dann das Rauschen seidener Frauenkleider. ‚Es ist ja keine Herrengesellschaft, Mademoiselle,‘ sagte ich, ‚hören Sie doch!‘ – ‚Sie irren sich,‘ erwiderte sie ernst. Aber da scholl ein silbernes Frauenlachen herein, und ein anderes antwortete.

Ich fühlte mich furchtbar beleidigt, zurückgesetzt. ‚Ich lasse mich nicht mehr als Kind behandeln!‘ rief ich außer mir. Drüben aber nahm das Mahl seinen Anfang und dauerte bis tief in die Nacht, die Lebhaftigkeit der Unterhaltung steigerte sich; zuletzt ward es ein wüster Lärm, aus dem sich die Frauenstimmen schrill abhoben. Die Bertin hatte mich zu Bette gebracht und saß mit blassem zornigen Gesicht neben mir. Sie hat mir schließlich Alles erklären müssen, da fing ich an, meinen Vater zu hassen. Am andern Tage verschloß ich mein Zimmer; die Bertin aber trug eine Depesche an Onkel Ludolf zur Post: ‚Komme sofort, ich kann bei Papa nicht bleiben!‘ – Am Abend stand der Bruder meines Vaters vor mir. ‚Warum kann sie nicht bleiben?‘ fragte er die Bertin. Sie verschmähte die deutsche Sprache und erklärte es ihm auf französisch. Er küßte mich auf die Stirn und ging hinüber zu meinem Vater. Im Anfang war Alles ruhig; dann erhob sich Ludolf’s Stimme im höchsten Zorn; als er wieder in mein Zimmer trat, bebte er förmlich. ‚Packen Sie Ihre und meiner Nichte Sachen,‘ sagte er kurz, ‚in zwei Stunden geht der Schnellzug.‘ – Wir reisten, ohne Papa Adieu zu sagen, auf das Gut meines Onkels. Acht Tage später fragte er mich, ob ich ihn heirathen wollte? Meine Dankbarkeit kannte keine Grenzen; Dillendorf war ein herrlicher Aufenthalt, den ich schon aus meiner Kinderzeit liebte, der Onkel Ludolf ein stattlicher Mann, nach drei Wochen wurden wir getraut. Ich versichere Dich, von Liebe war keine Rede, aber ich bildete es mir wirklich ein. Da habe ich Dir nun doch von mir erzählt,“ sagte sie, in das traurige Mädchenantlitz schauend, „verzeihe mir!“

„Arme Hortense!“

„Ach Kind, das war das Schlimmste noch nicht! Es ist kein Wunder, wenn ich denke, es giebt nicht einen einzigen guten Menschen mehr auf der Welt.“

„Arme Hortense!“ flüsterte das Mädchen noch einmal, „so schwere Schicksale und so verkannt!“

„Was die Menschen über mich sagen, ist mir allerdings furchtbar gleichgültig,“ fuhr sie fort, als habe sie Luciens Gedanken errathen. „Aber von den Wenigen falsch beurtheilt und zurückgesetzt zu werden, zu denen man noch Vertrauen hatte, das ist zum Sterben schwer. Sage,“ fragte sie nach einer Pause, „was hat man Dir von mir erzählt?“

Lucie ward roth.

„Natürlich!“ nickte die junge Frau. „Ich will es nicht wissen, aber ich danke Dir, daß Du dennoch zu mir gekommen bist.“ Sie nahm des Mädchens widerstrebende Hand und küßte sie. „Laß Dich nicht irre machen an mir, bitte!“

„Nein, Hortense,“ sagte Lucie, zu Thränen gerührt durch die Bitte der jungen Frau.

Sie plauderten noch eine ganze Weile, dann wollte Hortense in die frische Luft.

„Ich bin noch ein wenig schwindelig, aber wenn Du mich stützest – vielleicht liesest Du mir im Garten ein wenig vor? Wir nehmen die Hängematte mit.“

„Sehr gern!“

Sie kamen, Arm in Arm, hinunter auf den stillen Hof. Da klang ein helles Wiehern aus dem Stall.

„Das ist Hella!“ sagte die junge Frau. „sie kennt meinen Schritt. Komm, Du sollst sie sehen.“

Sie gingen vor den Fenstern des alten Herrn vorüber, er stand hinter den Scheiben, warf ihnen entzückte Kußhändchen zu und rief dann, einen Flügel öffnend:

„Ich gratulire, gratulire!“

„Warum gingst Du nicht zu Deinem Großpapa, als der Aufenthalt in Deines Vaters Hause unmöglich wurde?“ fragte Lucie.

„O, er war damals, glaube ich, in Afrika auf der Antilopenjagd mit dem Herzog von K., Du hast wohl nie gehört, daß er ein ganz berühmter Nimrod war? Sollte Dein Schwager ihn nicht kennen?“

„Ich weiß es nicht,“ meinte Lucie, „es ist sehr wohl möglich.“

„Wie schon gesagt, er war selten oder nie daheim, er hat in allen Welttheilen und alle Kreaturen gejagt. Sieh, da ist meine Hella!“ sagte sie, die Thür des Pferdestalles öffnend. „Ist sie nicht schön?“

Der prachtvolle Goldfuchs kam heran und begann die Hände und das Kleid der Herrin zu beschnuppern.

„Du vermissest Deinen Zucker, Hella?“ sagte sie und klopfte zärtlich den schlanken Hals, „ich gab ihn Dir gestern nicht – ach gestern! Aber für Dich hatte ich gesorgt, Du hättest nimmer das Schicksal Deiner Pferdebrüder getheilt als altes müdes Thier, Du hättest das Gnadenbrot bekommen. Eine Andere hätte sich nie auf Deinen Rücken gesetzt.“

Sie wandte sich um, und Lucie sah große Tropfen in ihren Augen.

„Es ist traurig, nicht wahr, wenn man nur noch Thränen für ein Thier hat? Ich versichere Dich, das Schicksal des Pferdes war gestern noch das Einzige, was mir den Gedanken an den Tod schwer machte. Holst Du mir ein wenig Zucker?“

Lucie ging bereitwilligst in das Haus und fand endlich bei Minna das Gewünschte. Die Köchin war in die Stadt gegangen, und Mademoiselle bedauerte unendlich, sie habe nie Zucker. Aber sie hielt das junge Mädchen mehrere Minuten zurück mit haarsträubenden Berichten über die letzte Nacht. „Sie war parfaitement wahnsinnig,“ betheuerte sie.

Als Lucie mit ihrem Tellerchen wieder über den Hof kam, scholl ihr die tiefe Stimme des Bräutigams aus dem Pferdestall entgegen. Unwillkürlich stockte ihr Fuß. Würde sie stören? Er kam ja als Arzt.

„Was soll Ihnen denn das Kind vorlesen, gnädige Frau?“ hörte sie ihn fragen. „‚Manfred‘? Ach, schenken Sie ihr die Bekanntschaft dieses düsteren Helden, auch für Sie ist es nichts. Lassen Sie sich etwas Heiteres von ihr lesen, z. B. Reuter; sie liest diese von urgesundem Hauch durchwehten Dichtungen allerliebst.“

„Heiteres?“ hörte sie Hortense antworten. „Das Leben ist so ernst.“

„Aber für die vorgeschlagene Lektüre dürfte ihr das Verständniß fehlen.“

„Das ist ja recht schmeichelhaft! Ich danke Ihnen im Namen Ihrer Braut. Aber, Ihr Wunsch in Ehren, wir brauchen überhaupt nicht zu lesen.“

Lucie trat ein während der letzten Worte; sie maß ihren Bräutigam mit unsicherem Blick und sah blaß aus. Er reichte ihr die Hand, bedauernd, daß er weiter müsse. „Begleite mich bis zur Pforte,“ bat er. Sie ging neben ihm über den Hof, während Hortense das Pferd fütterte.

„Arme Kleine,“ sagte er mitleidig, „Du fühlst Dich wohl nicht allzu behaglich hier?“

„Warum?“ fragte sie.

Er blieb stehen und sah sie an.

„Ich fühle mich sogar sehr wohl,“ erklärte sie. „Ich finde Hortense liebenswürdig und klug, ich freue mich über den Verkehr.“

Er schwieg wie betroffen, es lag etwas Widerspruchvolles in ihrer ganzen Haltung.

„Lebewohl!“ sagte er an der Pforte, „ich denke, Frau von Löwen wird bald ganz hergestellt sein.“

„Adieu!“ erwiderte sie, ernsthaft den Kopf neigend.

Hortense wartete ihrer. Sie gingen dann in den Garten;

der Reitknecht mußte die Hängematte unter einer Kastaniengruppe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_054.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2023)