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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Eingeschneit.

Von C. Falkenhorst.


„Das ist unser Wetter!“

Es schneit! Es schneit! Freudig und fröhlich klang dieser Ruf von tausend Lippen, als die ersten Schneeflocken im December 1886 in der Luft wirbelten und langsam zur Erde niederfielen. Jung und Alt stimmte in diesen Ruf ein; denn es war gerade acht Tage vor Weihnachten, und, Alt oder Jung, um diese Zeit sind wir Alle von einem geheimnißvollen Zauber ergriffen, und unter tausend anderen Wünschen hegen wir auch den, daß sich die Natur zum Weihnachtsfest schmücke und das blendend weiße Schneekleid anlege. Und sie legte es wahrlich an; bald schimmerten auf den Bäumen weiße Kronen, auf Giebeln und Erkern hoben sich sanft geschwellt weiße Polster und Linien, und immer dichter wurde die Schneedecke des Erdbodens. Schon hemmte sie den Fuß des eilig Dahinschreitenden, und in den Straßen der Großstädte erschienen die dunklen Haufen der Schneeschipper; vergnügt lachten die bärtigen Gesichter und die Lippen murmelten zufrieden: „Das ist unser Wetter!“ – „Das ist unser Wetter!“ jubelte auch die Schar der lieben Schuljugend und warf die Schneebälle in heller Lust! Ja, freudig wurde jener Schneefall begrüßt!

Und weiter schneite es; immer dichter fielen die feinen Flocken; eisiger Wind pfiff von Zeit zu Zeit dazwischen; hin und her trieb er weiße Wolken, formte auf der ebenen Straße Mulden und Hügel und heulte und pfiff immer lauter und siegesbewußter, bis er die vollen Töne des Sturmes erreichte. Aber was focht das die Menschen an in der erwartungsfrohen Zeit vor Weihnachten!

Im Hochgebirge mag solch ein Schneesturm zu Besorgniß Anlaß geben. Jahraus jahrein gewinnt ja dort der Schnee die Oberhand, daß die Dörfer, von jedem Verkehr abgeschnitten, wie in langen Winterschlaf versinken und über Berge und Kämme kein Weg und Steg führt. Gefahrdrohend erscheint er wohl auch in der weiten, menschenleeren Steppe des Ostens, wo der verirrte Reisende auf den weißen endlosen Schneefeldern nach den klagenden Glockentönen naher Dorfkirchen horcht, die ihm den rettenden Weg weisen. Aber im Herzen Europas, im Herzen unserer stolzen Kultur, wer würde da die Gewalt eines Schneesturmes fürchten? Wir wissen ja: der Wintermonarch mit der Eiskrone vermag den heißen Herzschlag des schnaubenden Dampfes nicht zu ersticken; wie oft schon in den letzten Jahren hat er Wälle auf Wälle dem Blitzzuge in den Weg geworfen! Wohl hielt stellenweise das Dampfroß an, aber hundert fleißige Hände bahnten ihm durch Schneewehen den Weg, und donnernd und schnaubend erreichte es stets sein Ziel – einige Stunden Verspätung, sie sind leicht einzuholen in dem Zeitalter des Dampfes.

So dachten wir alle, als die lange Winternacht mit schwarzen Fittigen die Erde umfing und die Stadt zur Ruhe ging, unbekümmert um das Toben des Sturmes. Als aber der Morgen graute, da hatte der Tückische sein Werk vollbracht. Der Schneefall hatte durch alle menschlichen Berechnungen einen einzigen großen Strich gezogen. Der Verkehr stand still; kein Pfeifen der Lokomotiven, kein Glockensignal ankommender und abgehender Züge auf den Bahnhöfen; nur in den Wartesälen lärmende Menschen; sitzengebliebene Reisende, die weder vor- noch rückwärts konnten; Reiselustige, die vergebens nach dem Bahnhofe gekommen waren. Hier trieb der Galgenhumor seine Blüthen; dort schaute tiefes Leid aus den blassen Gesichtern. Der Bräutigam, der zur Hochzeit wollte, kann nicht vorwärts und muß die Braut im festlichen Schmucke warten lassen; der Sohn kann nicht eintreffen zum Begräbniß des Vaters; der Geschäftsmann rechnet still die Verluste nach, welche ihm der unfreiwillige Aufenthalt zufügt. So wogt auf und ab die Menge in den Bahnhöfen der Großstadt, bis die Hoffnung auf Weiterkommen schwindet, bis sich die Säle leeren und die großen Hallen tagelang stumm und still dastehen, wie noch niemals, seitdem die Menschenhand sie aufgeführt. –

Ein anderes Bild bieten uns die Bahnhöfe kleiner Orte; auch hier wimmeln die Säle von Sitzengebliebenen. Verzweiflungsvoll depeschiren sie nach allen Himmelsrichtungen um Rettung und Erlösung. Vergeblich! Die Nacht vergeht und der Tag bricht an; im nahen Städtchen suchten die Einen Unterkommen, die Anderen übernachteten in den kalten Eisenbahnkoupés. Reich und Arm, Hoch und Niedrig brachte der Zufall zusammen, und man sieht, wie ein Hut durch die Gesellschaft wandert, wie gesammelt wird für die mittellosen Reisegenossen; und als die Thränen der Armen angesichts der gebotenen Hilfe trocknen, da erfaßt auch fröhlichere Lust die Gemüther der Geber. Die Sitzengebliebenen veranstalten Tanzkränzchen, und es wird sogar von Verlobungen, von verlorenen und gefundenen Herzen gemunkelt. Wundersamer Humor der Eingeschneiten!

Draußen aber auf dem blachen Felde hat der Sturmwind eine malerische Landschaft aufgebaut, Wälle und Dämme, Hügel und Berge aufgethürmt, Straßen verweht, Eisenbahnlinien unsichtbar gemacht. Zwischen den Baumreihen, die schwarz aus dem Schneefelde hervorragen und die Chausséerichtung andeuten, liegen ausgespannte Wagen und Lastfuhrwerke. Man ließ sie stehen, da ein Vorwärtskommen unmöglich war. Zwischen den schlanken Telegraphenpfählen schaut aus dem hohen Schneedamme eine Reihe dichtgedrängter Eisenbahnwagen hervor. Eingeschneit! Der Zug kann weder vorwärts noch rückwärts; kein Rauch steigt aus dem Schornstein der Lokomotive gegen den grauen Himmel; die Menschen spähen ungeduldig hinaus, ob die Hilfsmaschine nahe mit Feuerungsmaterial und Nahrungsmitteln und hoffentlich auch mit Arbeitern, welche die Bahn frei legen.


Alte Post wieder in Ehren!
Originalzeichnung von Rudolf Cronau.


Hier sitzen noch die Passagiere streng nach Klassen gesondert. Die gelben Nummern auf der Wagenthür behalten noch ihre Geltung, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_061.jpg&oldid=- (Version vom 6.9.2020)