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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Dann müßte ich nicht ein Arzt sein, der sich gerade fest niedergelassen hat, Frau von Löwen.“

„Aber Sie sind früher viel gereist?“ forschte sie.

„Viel? Nein! Aber ich kam doch durch ein gutes Stück von unserem Vaterlande und darüber hinaus.“

„Waren Sie in der Schweiz?“

Er nickte. „Ja! Und sogar weiter, in Italien. Ich bin als Student dort umher gewandert von den Ersparnissen meiner Stipendien, die ganz ansehnlich waren. Ich habe in Paris die Tuilerien besucht und in London den Tower und bin sogar einmal unter der Mitternachtssonne gewandelt.“

„Nun, dann wissen Sie ja zur Genüge, wie schön die Welt da draußen ist.“

„O herrlich! herrlich!“

Hortense lächelte jetzt. „Glauben Sie, daß andere Leute auch gern einmal reisen?“

„Ein Narr, wer es nicht thäte!“

Die junge Frau war aufgestanden und faßte seine Schulter. „Gefangen!“ rief sie fröhlich wie ein Kind.

„Ich? – Wie? – Was?“

„Sie müssen jetzt!“

„Was denn?“

„Lucie mit mir auf acht Wochen verreisen lassen.“

Er hatte sich erhoben und sah erstaunt zu seiner Braut hinüber, die stumm am Flügel lehnte.

„Lucie – Du – jetzt?“ fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich will nicht,“ sagte sie.

„O, sie will! Sie hat die größte Lust, lieber Herr Doktor, denken Sie doch, daß sie kaum aus der Provinz gekommen ist.“

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, aber antwortete nicht.

„Wir sprechen zu Hause darüber, Lucie,“ sagte er endlich. Die Farbe war noch nicht wieder in sein Antlitz zurückgekehrt. Das Mädchen versuchte zu lächeln; doch es mißlang, stumm nahmen sie Platz. – Es war ein seltsames Stürmen in Beider Herzen.

Er kennt die Welt,“ dachte sie, „er hat alles Schöne genossen, Du wirst es nimmermehr sehen!“ – Und er sah starr auf den blinkenden Theekessel. „Sie will Dich verlassen in der seligsten Zeit des Lebens, im Brautstande!“

Eine lange Pause entstand. Hortense räumte die Bilder in die Mappe und die fremdländischen Sächelchen in ihren Behälter, und als sich noch immer kein Wort finden wollte, setzte sie sich an den Flügel und begann zu spielen, als wollte sie den beiden stillen Menschenkindern einen Grund für ihr Schweigen geben. – Hortense spielte sehr schön und hatte eine tiefe klare Altstimme. Aber wie in ihren Lebensanschauungen herrschte auch hier die düstere Richtung vor. Meisterhaft erklang der Chopin’sche Trauermarsch unter ihren Fingern.

Sie spielte öfter vor dem jungen Paare; Alfred hatte seine Braut zuweilen abgeholt und war ein so andächtiger Zuhörer gewesen, wie es das schöne Spiel verdiente. Heute wogte es unheimlich vor seinem Ohr und drang nicht ans Herz. Er erwachte erst aus seinen Träumereien, als Hortense’s Stimme durch das große Gemach schwebte. Sie sang ein Eichendorff’sches Lied: die Sehnsucht eines jungen Herzens, mit hinaus in die Welt ziehen zu können:

„ – – von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Landen verwildern,
Palästen im Mondenschein –
00000000
Ach, wer da mitreisen könnte,
In der schweigenden Sommernacht – “

Der Doktor hob den Kopf. Ach, Jugend und Sehnsucht! Und er erinnerte sich mit Entzücken, wie er zum ersten Male den Rhein bei Bingen erschaut. Hatte er ein Recht, das junge Herz seiner Braut um solch reine Freude zu betrügen? Nein! Sie sollte sehen und staunen. Aber mit ihm. Sie war noch so jung, sie konnte noch warten, und dann, wenn er hier festen Fuß gefaßt, dann – wie kam er dazu, jene reine Freude, die ein junges Menschenherz empfindet, schaut es Gottes schöne Welt, diese Hortense sehen zu lassen, er, dem dies Herz gehörte? Niemals! – Und wie er jetzt seine Blicke auf sie richtete und ihre zierliche Gestalt betrachtete, die großen Augen, die unter den langen Wimpern hervor wie träumend in das Leere schauten, und den schmerzhaft verzogenen kleinen Mund, da kam ein inniges Mitleid über ihn. „Versteht sie Dich wohl, kann sie Dich lieb haben?“ fragte er sich.

„Komm, Lucie,“ sagte er ruhig und erhob sich, „daheim warten sie auf uns.“

Sie stand wie ein folgsames Kind auf und holte ihren Regenmantel. Hortense machte keinerlei Einwendungen, sie reichte dem Doktor die Hand und drückte Lucie an sich.

„Auf Wiedersehen!“ rief sie ihnen noch nach und bog sich über das Geländer der Treppe, die das junge Paar stumm hinabschritt.

Zu Hause herrschte noch dieselbe trostlos öde Stimmung. Frau Steuerräthin saß auf dem nämlichen Platz, Tante Dettchen war vom Schlaf erwacht und las beim letzten Tagesschein in ihrem schmutzigen Leihbibliothekbuch. Das kleine erbärmliche Dienstmädchen sah in ihrem knappen schwarzen Konfirmationskleide, das sie zu Ehren des Sonntags trug, noch dürftiger und verhungerter aus als sonst und deckte den Tisch nebenan so geräuschlos, als wären die Teller von Filz. Sie saßen dann auch sehr bald in der Hinterstube beim Essen, aber es wollte kein Gespräch in Fluß kommen.

Endlich nahm die Mutter das Wort.

„Nun, Alfred, wie ich höre, warst Du in Deinem Hause? Pastor Rißmann hat Dich darin umhersteigen sehen; wie gefällt es Dir denn?“

„Ich bin recht zufrieden,“ erwiderte er.

„Weil wir heute Nachmittag gar nichts vorhatten, haben wir die Tapetenprobe besehen, die Kunze gestern schickte, das heißt Dettchen und ich – Lucie war ja nicht da,“ setzte sie mit einem Seitenblick auf das Mädchen hinzu.

„So, so! Sind sie hübsch?“

„Es sind sehr praktische Master darunter, bedeckter Grund und matte Farben. Der Tischler kam auch heute Nachmittag und meinte, er möchte nun bald seine Bestellung haben, weil er noch vor dem September Lieferungen für eine Fabrik übernommen hätte. Ich sagte ihm schon, Ihr reflektirtet nur auf sehr einfache und praktische Sachen. Er wollte durchaus ein Büffett anpreisen, das er im vorigen Jahre auf der Ausstellung gehabt hat. Unsinn! Ein Büffett! Es ist gräßlich unpraktisch, oben drauf verstaubt Alles, und beim Abwischen wird’s zerschlagen.“

„Aber heut zu Tage!“ fiel Tante Dettchen ein.

„Dettchen, ich bitte Dich!“ sagte die Schwägerin, und Dettchen verstummte. Sie hatte im Laufe des Nachmittags so unendlich viele Seufzer über die dreitausend Thaler gehört, die Lucie als einziges Heirathsgut einbrachte, und die nicht hin und nicht her langen wollten, daß sie aus Angst, der kleinen Braut möge weh geschehen, nichts mehr zu sagen wagte.

„Nun, darüber werden wir uns schon einigen,“ meinte er und nahm ein paar Radieschen, „nicht wahr, Lucie? Zuvörderst müssen wir das Haus ausmessen. Aber Ihr entschuldigt wohl, ich habe noch einige Atteste zu schreiben. Gesegnete Mahlzeit, meine Damen.“

Er stand auf, schob seinen Stuhl an den Tisch und verließ das Zimmer. In der Thür wandte er sich noch einmal um. „Ach, Lucie, auf ein Wort.“

Sie folgte ihm in seine Stube und lehnte sich dort an den alten birkenen Sekretär, der noch von seinem Vater stammte. Es war ein kahler, ungemütlicher Raum. Ein Bücherschrank rechts und ein Instrumentenschrank links vom Sofa, davor ein runder, vom Alter schief gewordener Tisch, bedeckt mit Büchern, zwischen den Fenstern ein Spiegel, dessen Konsole Wasserflasche und Gläser trug, ein gelblicher baufälliger Kachelofen, einf uralter Lehnstuhl, und über alledem ein eigenthümlich scharfer Duft wie von Karbol oder Aehnlichem. Ihr wurde auf einmal körperlich ganz elend.

„Lucie,“ begann er –

„Ich weiß,“ unterbrach sie ihn, „ich will ja gar nicht reisen.“

„Das ist gut! Ich hätte es auch nicht gestattet.“ Sie zuckte empor. „Ich will nicht!“ Sie betonte das „will“ hart.

„Das trifft sich gut,“ erwiderte er ruhig, aber ein flüchtiges Roth färbte ihm die Schläfen, „denn nach meiner Ansicht kannst Du eine solche Einladung nicht annehmen.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_071.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2023)