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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


„Wenn wir d’ Muatter nur no z’ Haus treff’n, sie versamt si’ net gern in d’ Kirch’n!“ erwähnte Anna.

Sie bogen von der Hauptstraße ab in einen engen Fußweg, der mit Kirschbäumen eingefaßt war.

Anna zupfte plötzlich Rupert am Arme.

„Da kommt d’ Muatter uns entgeg’n! Jesses! mir werd auf eamal so angst, wenn i denk’, daß sich jetz all’s entscheid’n soll!“

Auch Rupert war sichtlich beklommen, er zupfte sein Halstuch zurecht, rückte den Hut und räusperte sich wie Jemand, der eine Rede vom Stapel lassen will.

Zwischen den Kirschbäumen, deren rothe Frucht schon verlockend aus dem Grün heraussah, näherte sich eine gebückte Frauengestalt, auf einen Krückstock gestützt. Sie mußte eine statttiche Erscheinung gewesen sein, die Langbäuerin! Das hohe Alter konnte ihr eine gewisse Würde nicht rauben, die noch immer aus den regelmäßigen, sehr ernsten Zügen, den noch immer klaren blauen Augen sprach. Unter der schwarzen Haube ringelte sich schneeweißes Haar hervor; ihr Anzug war schwarz, sie trug sich seit dem Tod ihres Mannes immer so, nur aus einer silbernen Schließe von alter Arbeit, die ihr schwarzes Halstuch zusammenhielt, leuchteten zwei Rubinen. In der runzligen, gebräunten Hand trug sie ein großes Meßbuch. Sie ging so tief gebückt, daß sie die Beiden nicht herankommen sah.

„Muatter,“ sagte Anna, als sie auf wenige Schritte zusammengekommen waren. „Da bring i den Rupert!“

Die Alte stieß mit dem Stock auf die Erde, erhob ihr Antlitz, mit der Hand es gegen die Sonne schützend; die kleinen Fältchen zwischen den Augenbrauen zogen sich noch mehr zusammen.

„Anna!“ rief sie erstaunt, dann deutete sie mit dem Krückstock auf Rupert.

„Und Du! Was willst Du vo mir, Jag’r Rupert?“

Der drehte verlegen seinen Hut zwischen den Fingern und stieß unbemerkt Anna, sie solle ihm aus der Verlegenheit helfen.

„Muatterl! wir hab’n ja drüber g’sproch’n vorige Woch’, weißt’ nimmer, Muatterl?!“

Die Alte griff mit der Hand, wie um die Erinnerung zu wecken an die Stirn, dann sah sie Beide groß an.

„Das wär’s!“ sie lachte bitter. „Kannst net no a Jahr’l wart’n, nacher brauchst mi ja nimma dazua! Wann des der Vater d’ erlebt hätt, des war was word’n! A Bauerstochter und a Jaga! Das is a g’spaßige Zeit!“ Sie schüttelte den Kopf. „Doch jetz is koan Zeit über so was z’red’n, Anna! Erst gehn ma ins Amt, es is ja scho z’ spat – vielleicht giebt uns’r Herrgott uns an guat’n Rath! Dann woll’n ma drüber red’n, dahoam! Geht’s nur voraus, i komm scho nach!“

Ihre Stimme zitterte, eine Thräne fiel auf das Gebetbuch.

Schweigend zogen die Beiden zur Kirche, die Alte folgte langsam – ihr Blick ruhte auf dem schmucken Paare. „A eig’ne Zeit!“ wiederholte sie immer wieder, „a eig'ne Zeit!“

(Fortsetzung folgt.)




Berliner Vereine.

  Verbrüderung der Geister ist
  der unfehlbarste Schlüssel zur Weisheit.
 (Schiller an Körner.)

Wollte man obigen klassischen Satz bedingungslos auf die Bewohner der Hauptstadt des Deutschen Reiches anwenden, so käme ein großer Theil derselben recht bequem und billig zur Weisheit, denn in Berlin bestehen 3500, schreibe dreitausend fünfhundert polizeilich angemeldete Vereine, ohne die unzähligen, der behördlichen Bewachung nicht unterliegenden Kränzchen, Klubs und Cirkel, die es ebenfalls auf Verbrüderung oder Verschwesterung der Geister abgesehen haben. Die gesammelten Statuten aller dieser Gesellschaften bilden die interessanteste Bibliothek und sind für den Kulturhistoriker eine unerschöpfliche Fundgrube. In den amtlichen Listen werden die Vereinigungen in trockener alphabetischer Reihenfolge aufgeführt; versuchen wir dieselben nach anderen Gesichtspunkten zu ordnen! Es giebt in Berlin sprechende, musicirende und solche Verbindungen, welche gewisse körperliche Geschicklichkeit und Fertigkeiten bezwecken. Die Mitglieder der ersteren Gruppe werden von den mannigfachsten Interessen zusammengehalten: Vertreter aller Zweige der Wissenschaft und Kunst, Handwerker, Fabrikanten, Bürger der verschiedensten politischen Richtungen, ehemalige Soldaten, Beamte, Lehrer, frühere Schüler bestimmter Lehranstalten, von der Gemeindeschule bis zur Universität, Männer, welche sich der öffentlichen Gesundheitspflege, Wohlthätigkeit, Fortbildung, den Standesinteressen etc. widmen, vereinigen sich und fördern ihre Angelegenheiten nach den bekannten, in allen Volksschichten streng geübten parlamentarischen Regeln und ziehen gelegentlich auch die Frauenwelt – zu den Freuden der Tafel und des Balles mit heran.

Aus der Thatsache, daß in Berlin ungefähr tausend Theatergesellschaften bestehen, ließen sich die kühnsten Schlüsse ziehen; einige der größeren haben allerdings der deutschen Bühne berühmte Schauspieler geschenkt, auf die meisten dürften aber die Worte des Marktschreiers in Goethe’s „Jahrmarktsfest“ passen:

„Verschenken tausend Stück Pistolen,
Und haben nicht die Schuh zu besoblen.
Unsere Helden sind gewöhnlich schüchtern,
Auch spielen wir unsere Trunkenen nüchtern.
So macht man Schelm und Bösewicht
Und hat davon keine Ader nicht –“

Die letzten beiden Zeilen scheinen indeß nicht immer zutreffend gewesen zu sein, da die Polizei wegen allgemeinen Unfugs und der hinter den Koulissen, mit der Handlung des Stückes in absoluter Zusammenhanglosigkeit auftretenden zahlreichen Liebhaber die Schließung mancher unter hochtrabenden Namen „arbeitenden“ Theatervereine verfügen mußte.

In den harmloseren Bühnengesellschaften werden übrigens dem Mimen seitens der Mitwelt Kränze allergrößten Kalibers geflochten, zu den Vorstellungen bricht sich das Volk um ein Billett mit Vergnügen die Hälse, man lacht gern, aber noch lieber wird geweint. Wehe, wenn in der blutigen Tragödie der Bösewicht von der Rache nicht ereilt, der Uebelthäter nicht entlarvt und der lasterhafte Tyrann nicht bestraft würde! Das handfeste Parkett ist leicht geneigt die Bühne zu stürmen, um Gerechtigkeit zu üben!

Eine stattliche Reihe Gesellschaften widmet sich ausschließlich der Pflege des Humors, von den Scherzen im Tone der „Fliegenden“ bis zu jenen Regionen des höheren Blödsinnes, an dessen Darstellung vielfach die geistvollsten Männer, Gelehrte und ausgezeichnete Künstler mit staunenswerthem Enthusiasmus theilnehmen. Welche Aufnahmebedingungen der „Verein urfideler Kahlköpfe“ stellt, ist unschwer zu errathen. Wohl dem, auf dessen strahlendem Haupte auch nicht eine Stoppel mehr gefunden wird! „Wer aushaart“, wird nach dem Wahlspruch der Glatzenträger gekrönt. Am Stiftungsfest ertönt als Ouverture die Mondscheinsonate von Beethoven, das Programm enthält sorgfältig gesammelte „Lieder an den Mond“, während der Saal mit Gemälden geschmückt ist, auf denen Luna die Hauptrolle spielt.

Recht still geht es in den Gesellschaften der Taubstummen zu. Obgleich dieselben, Dank der neueren trefflichen Schulbildung, im Verkehr mit den Vollsinnigen sich der Lautsprache bedienen, so erledigen sie doch ihre Angelegenheiten nur durch die Pantomime. Auch die in Berlin zahlreich vertretenen Blinden vereinigen sich zu gemeinsamem Thun, sie musiciren auf allen Instrumenten, singen vortrefflich und debattiren nach Parlamentsregeln.

Unter der Rubrik „Geographische Vereine“ läßt sich eine große Zahl Gesellschaften nennen. Sie sind gebildet aus den Vertretern aller preußischen Provinzen und der verschiedensten Theile Deutschlands und größerer Städte: ein Beweis für die mannigfaltige Zusammensetzung der Residenzbevölkerung. Diesen Klubs gegenüber erscheint es ganz gerechtfertigt, daß sich neuerdings auch ein Verein echter Berliner aufgethan hat, er hält natürlich streng darauf, daß alle seine Mitglieder mit Spreewasser getauft sind.

Der Noth gehorchend, nicht dem eignen Triebe, müssen einzelne Vereine ungewöhnliche Versammlungszeiten wählen. So debattiren die Kellner lange nach Mitternacht, Straßenfeger und Nachtwächter in den Mittagsstunden, während die Bäckergesellen nach einer dunklen Sage des Vormittags ihre Bälle abhalten. Dem allgemein menschlichen Zuge folgend, vereinigen sich auch die Spitzbuben und anderes Gelichter zu fröhlichem Tanze; es fehlen auf dem Verbrecherkränzchen eben so wenig elegante Damen wie – Geheimpolizisten und Vigilanten.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_096.jpg&oldid=- (Version vom 11.11.2023)