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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Nein, immer, immer!“

„Hier? Das ist ja unmöglich! Ach, Hortense, mir ist so wirr, so schwer im Kopf –.“

„Hier bleiben – jetzt? Nein, Lucie! Nun reisen wir. – Laß mich, ich will Licht anzünden. Die Dunkelheit taugt nicht.“

Als die Flamme aufsprühte, ward Hortense erst die verstörten Züge des Mädchens gewahr. „Arme Maus,“ sagte sie, „so schwer ist es Dir geworden?“

„Ich habe eine Angst, eine Angst!“ stammelte Lucie.

„Du hast einfach recht gethan,“ unterbrach Hortense sie und drückte sie sanft in einen Stuhl. „Trinke ein Glas Wein, Du bist schwach. Und nun laß uns gute Kameraden sein, ich stehe zu Dir, was auch kommen möge, und so Gott will, trennen wir uns nie mehr, wir haben Beide genug von dem sogenannten Glück – wie?“

Lucie schüttelte den Kopf; ihre Zähne schlugen wie im Frost auf einander.

„Aber, Kind, wie ist es denn gekommen? Ich bitte Dich, alterire Dich nicht so, Du kannst ihm nur den kleinen Finger hinstrecken, wenn’s Dich gereut – und Du hast ihn wieder.“

Das Mädchen machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, aber sie trank den Wein, den Hortense ihr an die Lippen hielt. Eine bleierne Müdigkeit legte sich über ihre Glieder. Wie im Traume hörte und sah sie, daß ein zweites Lager in Hortense’s Schlafzimmer hergerichtet wurde, und fühlte die seidene Decke über sich. Eine weiche leise Hand hüllte sie ein, und ein paar zarte Lippen preßten sich auf die ihren.

„Schlafe wohl, wir bleiben nun immer beisammen.“

„Immer,“ wiederholte das Mädchen, und dann schlief sie ein.




Doktor Adler hatte auch geschrieben, noch denselben Abend, und zwar an Lucie’s Schwester.

Er bat sie, dem Mädchen nicht zu zürnen, besonders den Schwager zur Milde zu stimmen. Er sei sich bewußt, sein Theil Schuld an der veränderten Sinnesart des Mädchens zu tragen, da er leider wenig das Zeug besitze, einen aufmerksamen Damenhelden vorzustellen, auch habe Lucie ihn noch zu wenig gekannt, als er ihr das Wort abverlangte, und das sei wiederum sein Fehler gewesen. Fürs Dritte und Letzte aber glaube er, daß seine Mutter dem Mädchen nicht mit der erforderlichen Wärme und Herzlichkeit entgegengetreten sei, da sie schon andere Pläne für ihn gehegt, und das habe eine so feinfühlige Natur nothwendig verletzen müssen. Er sei trotzdem der festen Zuversicht gewesen, daß mit der Heirath alle diese schroffen Kanten sich geglättet haben würden. Nun, da es anders gekommen, bitte er um das Eine, das Mädchen in dem alten Zufluchtsort wieder aufnehmen zu wollen.

Er sprach kein Wort in dem Schreiben von seinem gekränkten Herzen, er entschuldigte nur.

Nachdem er den Brief gesiegelt, trug er ihn selbst zur Post und trat dann so gelassen wie immer zu seiner Mutter in die Wohnstube.

„Lucie läßt sich entschuldigen,“ begann er ohne Umschweife, „sie ist bei Frau von Löwen.“

„Natürlich!“ unterbrach ihn die alte Dame, die noch in ihrem Kaffeestaat – sie war eben heimgekehrt – vor dem Spiegel stand und ihre Blondenhaube abnahm.

„Wo sie auch bleiben wird, bis sie zu ihren Verwandten zurückkehrt,“ setzte er hinzu. Und als ein paar staunende Gesichter ihn sprachlos ansthauten, vollendete er: „Rike mag nachher die nothwendigen Sachen hinüber tragen.“ Und als noch immer das nämliche fassungslose Schweigen herrschte, setzte er wie ungeduldig hinzu, indem er nach der Thür schritt: „Lucie hat mir ihr Wort zurückgegeben.“

„Sie – Dir?“ fuhr die Mutter auf „Umgekehrt – willst Du sagen!“

„Nein, bedaure, sie – mir. Ich hätte nie daran gedacht. Entschuldigt mich, ich habe zu arbeiten.“

Er überließ es den Damen, allein mit dieser Neuigkeit vertraut zu werden, verriegelte die Thür hinter sich und saß in der Sofa-Ecke im Dunklen lange Zeit. Auf einmal wischte er sich über die Augen, sprang hastig auf und zündete Licht an, und der Lampenschein spiegelte sich in einem großen Tropfen, der an seinen Wimpern hing. Unbehilflich trocknete er ihn ab, es war die erste Thräne, seitdem er aus den Kinderschuhen getreten.

Nun nahm er den winzigen Ring, den sie getragen, und verschloß ihn in einem Schubfach, in welchem er allerlei Andenken verwahrte: seines Vaters goldene Tabaksdose, Pfeifenköpfe aus der fröhlichen Studienzeit, sein Cerevis und Kommersbuch. Dann rückte er die Lampe näher zu einem aufgeschlagenen Hefte und versuchte zu lesen, er saß lange so und starrte hinein, ohne zu wissen, was er vor sich hatte.




Zwei Tage später standen in dem Schlafzimmer der Frau von Löwen ein paar große Reisekoffer, und das Stubenmädchen schleppte die einfach eleganten Kleider der Herrin aus der Garderobe herzu, auf jedem Stuhle lag etwas, was eingepackt werden sollte, Handschuhkästen, Bücher, Papier, Schreibmappe, Operngläser. Lucie knieete stumm vor ihrem Reisekorb, den gestern Abend Rike mit Hilfe der Waschfrau gebracht, und schaute auf die flüchtig hineingeworfenen Sachen, ohne sich zu rühren. Sie sah unheimlich blaß aus.

„Was soll ich nur mitnehmen?“ fragte sie dann müde die junge Frau.

„Nicht zu viel. Du mußt schon erlauben, daß wir in Berlin Dir zu Liebe die Bekanntschaft mit meinem Schneider erneuern. Es soll ja gar nichts Großartiges werden, aber ein Reisekleid und eins für die Table d’hôte muß man haben. Du kannst unmöglich in dem hellen Kattunkleidchen in den Koupés sitzen.“

„Ach, Hortense, laß mich hier – mich ängstigt das.“

„Jetzt hörst Du auf oder ich werde böse!“ schalt die junge Frau. „Kleinigkeitskrämerin Du! Um ein paar Groschen Reisegeld machst Du solch gewaltigen Lärm? Ich bin tausendmal tiefer in Deiner Schuld – muß denn Alles nur nach Geldeswerth berechnet werden? Geh’ von Deinem Koffer, Minna wird das besorgen.“

Lucie setzte sich still ans Fenster und sah hinaus auf den einsamen Hof. Mademoiselle ging eben langsam nach der Gartenpforte, sie hielt einen grellrothen Sonnenschirm aufgespannt und streifte verdrießlich die Fenster der jungen Frau.

„Bös Wetter!“ sagte diese lächelnd. „Sie ist außer sich, daß sie daheim bleiben muß. Ich mag sie aber nicht mithaben, sie hat in jedem Hôtel eine Scene mit dem Zimmerkellner und kommt regelmäßig erst zum Vorschein, wenn man kaum noch Zeit hat, in den Zug zu springen. Sie mag allein auf Urlaub gehen, wenn wir einmal zurückkehren, meinetwegen auch früher.“

Nun ward die Schelle gezogen. „Da kommt der Briefträger,“ meinte Minna.

Lucie erschrak. Sie konnte schon Antwort haben von der Schwester. Das Herz schlug ihr zum Zerspringen. Dann flog sie vom Sessel empor und stand zitternd mitten in der Stube. „Barmherziger Gott – mein Schwager!“ stammelte sie.

Hortense war ebenfalls unangenehm berührt, sie kannte aus des Mädchens Schilderung hinlänglich seine derbe Manier. Um Alles in der Welt, nur keine Scenen! Sie sandte die Dienerin mit der Weisung hinunter, die Damen seien noch bei der Toilette, ob der Herr Oberförster sich eine halbe Stunde gedulden möge? Sie ging dem Mädchen nach und bog sich über das Treppengeländer.

„Ich wünsche Fräulein Walter zu sprechen,“ scholl es herauf. Das Mädchen antwortete dem Befehle gemäß.

„Oho!“ hörte sie die nämliche kräftige Stimme, „bestellen Sie nur dem Fräulein Walter, sie möchte sich erinnern, daß sie mir fast jeden Morgen im Hauskleide den Kaffee eingeschenkt hat.“

In diesem Augenblicke tönte der Ruf des alten Herrn von Meerfeldt dazwischen:

„Daß der Blocksberg wackelt! Remmert, sind Sie es wirklich?“

Und von der andern Seite ein lautes: „Ja, Herr Baron, so kommen die Menschen zusammen; aber lieber wäre es mir gewesen, hätten wir uns bei einem fidelen Treiben gesehen. als hier. Ich will eben meiner Schwägerin einmal die Leviten lesen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_102.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)