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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Ei, das können Sie später noch thun, jetzt kommen Sie nur herein! Peter, ein kleines Frühstück in das Speisezimmer! – Trinken Sie immer noch so gern Rothspohn, Remmert?“ –

Hortense kam lächelnd zurück. „Der ist besorgt und aufgehoben,“ sagte sie. „Er frühstückt mit Großpapa, und zwei Jagdkumpane zusammen beim Glase Wein – da ängstige Dich nicht, er thut Dir nichts, Luz!“

Auch über Luciens Gesicht flog ein Lächeln. Sie kannte ihren Schwager, wenn er gut gespeist und noch besser getrunken hatte; es war früher eine Quelle großer Heiterkeit für sie gewesen. „Ach, wenn Mathilde das wüßte!“ sagte sie.

„Daß er frühstückt, Lucie?“

„Er redet dann so viel,“ erklärte das Mädchen.

„Also doch wenigstens eine hervorragende Tugend.“

„Er ist sonst so gut, Hortense.“

„Sonst?“ sprach diese spöttisch.

„Er wird mich holen wollen.“

„Wir schicken ihn schon allein heim, Kind.“

Stunde auf Stunde war vergangen, da kamen schwere Tritte den Korridor entlang und Hortense öffnete die Thür selbst auf ein mächtiges Klopfen. Oberförster Remmert trat über die Schwelle, kreuzvergnügt, am Arm den alten wackligen Großpapa, dessen Antlitz eitel Sonnenglanz war über die unverhoffte, angenehme Unterbrechung seines einsamen Lebens.

„Na, Du Krott,“ schrie der große stattliche Mann das blasse Mädchen an, nachdem er vor Hortense eine Verbeugung gemacht, „hast den Handel aufgekündigt? Dann nur marsch! Pack’ ein! In Deiner Stube zu Hause hat Mathilde schon wieder Vorhänge aufgesteckt.“

„Er macht nur Spaß, kleines Fräulein,“ rief der Baron und krähte wie ein alter Hahn vor Lachen. „Er weiß schon, Sie reisen mit meiner Enkelin. Remmert, verderben Sie doch dem Kinde die Freude nicht!“

„Georg,“ bat Lucie demüthig, die unter der Wucht seiner schweren Hand, mit der er ihre Schulter gepackt hatte, fast zusammenbrach. „Georg, verzeihe mir, ich konnte nicht anders.“

„So! Du konntest nicht anders? Schöner Grund das –! Deine Schwester heult wie ein Wolf,“ fuhr der Oberförster mit gleich lauter Stimme fort. „Wir hatten gedacht, Du bist versorgt, und nun fängst Du solche Thorheiten an! Na, nun mach’ ein anderes Gesicht, Du Krott, Mathilde wird sich ja wohl trösten. Sieh zu, daß Du einen Andern bekommst, der Dir besser gefällt! Daß Du eine Dummheit gemacht hast, darüber sind wir wohl einig, was? Aber die Weiber, Herr Baron, die Weiber!“ wandte er sich an diesen, „und die Walters insbesondere, die haben den Teufel in sich! Meine Frau, dem Krott seine Schwester, die wollte mir noch zuguterletzt –“

Hier brach er in ein so herzliches, gutmüthiges Gelächter aus, daß der alte Herr und Hortense mit einstimmten.

„Mir den Laufpaß geben,“ fuhr er fort, „weil ich mich auf unserem Polterabend etwas – Pardon, gnädige Frau – angekneipt hatte. Da fand ich sie in einer Fensternische, und sie weinte zum Gotterbarmen. – Sag’ mal, Lucie, hat der Adler etwa auch –?“

„Nein, o nein!“ wehrte das Mädchen nervös.

„O Ihr Weiber! Na, dann leb’ wohl, Du kleiner Satan; Du mußt nicht etwa denken, daß ich Dir zürnen will, dazu ist mir Deine Schwiegermutter zu scheußlich. Aber er dauert mich, wahrhaftig, Lucie, er dauert mich, der arme Kerl sieht ganz blaß aus.“

„Du warst bei Adlers?“ fragte das Mädchen, die vor ihm stand. Er hielt schon geraume Zeit ihre Hand in der seinen und schüttelte sie unaufhörlich.

„Das soll wohl sein! Na, ich danke, die Gnädige, sie fauchte wie eine angeschossene Wildkatze. Aber der arme Kerl!“ wiederholte er. „Na, ich gehe jetzt zu ihm, habe ihn zu Mittag geladen in die ‚Goldene Krone‘ – darum keine Feindschaft nicht, nein! Adieu, gnädige Frau! Also Mathilde werde ich grüßen. Leben Sie wohl, Herr Baron, wie schon gesagt vorhin, Majestät hat bei der letzten Jagd siebzehn kapitale Stück auf der Strecke gehabt, und der Herzog nicht viel weniger.“

Er kniff Lucie noch einmal in die Wangen und verließ mit dem alten Herrn das Zimmer, noch vom Hausflur herauf scholl sein lautes Sprechen und Lachen.

Als er den Hof verlassen, erfüllte eine befremdende Stille Haus und Gemach. Hortense und Lucie standen am Fenster. „Nun ist’s vorbei, nun sind die Brücken hinter mir abgebrochen,“ sagte das Mädchen, sich umwendend, und legte ihre Arme um den Hals der jungen Frau.

„Weine nicht,“ sagte diese etwas ungeduldig, „Du wirst bald auf andere Gedanken kommen, wenn Du hier heraus bist. Das ganze Leben ist doch eigentlich keine Thräne werth.“

„Ich weine nicht,“ erwiderte Lucie. Und in der That, ihre Augen waren trocken, aber sie hatten einen Ausdruck von Trostlosigkeit.




Fast ein Jahr war vergangen. In dem elegant ausgestatteten Zimmer eines großen Hotels in Dresden erwachte ein junges Mädchen an einem wonnigen Maimorgen, blinzelte schläfrig in die Goldfunken, die sich durch die nicht völlig geschlossenen Jalousien drängten, und legte sich dann mit einem Ausdruck von Müdigkeit wieder in die Kissen zurück. Dabei streifte ihre Hand die thaufrischen Blätter eines Maiglöckchenstraußes, und als sie erschreckt zugriff, hielt sie die duftige Gabe mit einem gerührten Lächeln in der Hand und sagte halblaut: „Gute Hortense!“ Sie wußte, was der Strauß bedeuten sollte, heute vor einem Jahre war es gewesen, als sie ahnungslos in das Koupé flog und in die Arme der jungen Frau die sie wie in einem unsichtbaren Netze gefangen hielt.

Lucie lag unbeweglich, die duftenden Blumen an der Wange, und ließ die Spanne Zeit von dort bis jetzt an sich vorübergehen. Sie hatte immer nur ungern ihren Gedanken eine Rückkehr in die Vergangenheit gestattet, und nahmen sie allzu gewaltsam ihren Flug dorthin, so kämpfte sie tapfer dagegen und zwang sich vorwärts zu blicken. Es war ihr anfänglich auch nicht schwer geworden – die schöne Welt da draußen, das Wunderland Italien, die tausend neuen fremdartigen Eindrücke – sie hatte wie in einem Rausche dahin gelebt und jeden Tag aufs Neue in inniger Dankbarkeit am Halse der jungen Frau gehangen. „Dir danke ich Alles, meine Freiheit, die herrliche wunderbare Gegenwart – kann ich es Dir je vergelten?“

Ach ja, es war wonnig so zu leben! Sie hatte Hortense so unendlich lieb, und doch – sie wußte nicht, was ihr das Herz so schwer machte, besonders seitdem sie wieder in Deutschland war.

„Es ist eigenartige Luft jenseit der Alpen,“ hatte ein alter liebenswürdiger Engländer zu ihr gesagt, mit dem sie eine kurze Strecke das Koupé theilten. „In meinem Salon daheim hängt neben einem farbensprühenden Bilde der Bucht von Neapel die Ansicht des Heidelberger Schlosses im Mondlicht, dämmernd und geheimnißvoll; so möchte ich die beiden Länder vergleichen, dort das lachende Leben, hier die ernste Schwärmerei.“

Ach, Lucie empfand es tief, daß eine „eigene Luft“ in Deutschland wehe, aber sie vermochte es nicht auszusprechen; sie schämte sich vor Hortense, denn die junge Frau redete mit unverhohlener Mißachtung von „sentimentalen Stimmungen“ und nannte sie eine Charakterschwäche der deutschen Frauen insbesondere. Ueber diesen Punkt würden sie sich nie einigen, das wußte das Mädchen nun, über diesen nicht und über andere nicht. Aber war denn das so schlimm? Gerade die Verschiedenartigkeit ihrer Charaktere hielt sie ja so fest, so innig zusammen. Und wenn Lucie sich auch willig dem geistreichen weltgewandten Wesen der jungen Frau anschmiegte, so hatte sie anderseits eine unbestrittene Macht über diesen leidenschaftlichen Charakter erlangt. Hortense hatte sich gewöhnt, bei Allem, was sie that, das junge Mädchen zu fragen: „Wie denkst Du darüber, Lucie? Was würdest Du an meiner Stelle thun?“

Nur ein einziges Mal hatte sich eine wirkliche Verstimmung zwischen ihnen geltend gemacht, und das war gestern Abend gewesen. Hortense hatte eine Reise nach Wien geplant.

„Wir sind so gemüthlich hier,“ hatte Lucie entgegnet, „laß uns noch ein paar Wochen still sitzen oder miethe eine kleine Sommerwohnung an der Elbe stromaufwärts!“

„Warum?“

Lucie wußte weiter nichts zu sagen, als daß sie sich nach Ruhe sehnte. Nach Ruhe – und nach einem Wiedersehen mit ihrer Schwester, und dabei hatte sie plötzlich geweint.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_103.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)