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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


„Lege Dich nieder, Hortense,“ bat Lucie. Sie schüttelte den Kopf und nahm dem eben wieder eintretenden Kellner zwei Theaterbilletts ab. „Wir wollen heute hier oben speisen,“ sagte sie zu dem hellblonden, tadellos frisirten jungen Menschen.

„Sehr wohl!“ Er verschwand, um nach wenigen Minuten zurückzukehren, mit einem riesigen Präsentirbrett voll Porcellan, das er mit wahrhaft nachlässiger Grazie auf der Hand balancirte.

Hortense stand während des Tischdeckens still am Fenster; plötzlich wandte sie sich um. „Wohnt ein Herr Rittmeister von Wilken hier im Hôtel?“ fragte sie.

Die Nase des Hellblonden fuhr in die Luft, und seine Augen schlossen sich halb. „Wilken? Wilken?“ sagte er, als müsse er sich besinnen, „Rittmeister von Wilken – ganz recht, gnädige Frau; er logirt hier, eine Treppe höher Nummer 29.“ – Er ging nochmal um den Tisch, rückte die Stühle, zupfte am Tischtuch und verschwand mit der Versicherung, daß er sofort die Suppe auftragen werde.

Hortense stand regungslos; sie kam auch nicht früher an den Tisch, bis der Kellner die Suppe servirt hatte und verschwunden war. Sie saß bleich und still vor ihrem Teller und rührte die Speisen nicht an.

„Iß doch, Hortense,“ bat Lucie.

Sie schüttelte den Kopf und betrachtete die beiden Theaterbilletts, die neben ihrem Teller lagen.

„Wollen wir nicht lieber daheim bleiben heute?“ fragte das junge Mädchen.

„Nein!“ war die kurze Antwort. Das Essen verlief schweigend. Das Dessert blieb gänzlich unberührt. Hortense schlug jetzt die am Morgen versäumte Spazierfahrt vor, und bald saßen sie stumm neben einander im Wagen, der sie durch die Alleen des „Großen Gartens“ führte. Es fiel Lucie auf, daß Hortense ein eleganteres Kostüm angelegt hatte, als sonst, und bei der Hinfahrt vor einem Magazin in der Prager Straße halten ließ, ausstieg und mit einem dunkelrothen Sonnenschirm wieder zurückkam. „Das Neuste,“ sagte sie lächelnd zu dem jungen Mädchen, ihre Errungenschaft sofort gegen die leuchtende Frühjahrssonne benutzend. „Gefällt er Dir?“

„Nein!“ erklärte Lucie, „ich liebe nicht die grellen Farben.“

„Ich auch nicht,“ erwiederte die junge Frau, deren blasses Gesicht, im Widerschein des Schirmes von rosigem Schimmer überflogen, völlig verändert aussah. „Ich auch nicht, aber –“ und sie hielt den Schirm über Lucie, „er erfüllt seinen Zweck, wie ich sehe.“

Als sie in das Hôtel zurückgekehrt waren, beeilten sie sich, Toilette für das Theater zu machen. Lucie war sehr bald fertig, sie kam herüber in das Schlafzimmer der Freundin, um ihr, wie sie es so gern that, behilflich zu sein. Hortense stand in einem schwarzen Spitzenkleide vor dem großen Spiegel; auf einem Tischchen neben ihr lagen mehrere Kartons mit Blumen und Federn; sie hatte eben einen Schmetterling aus Goldfiligran mit bunten Steinchen besetzt ins Haar gesteckt; nun nestelte sie ihn ärgerlich ab und warf ihn heftig auf den Tisch. „Es ist heute so ein Tag, wo nichts gerathen will,“ murmelte sie.

„Warum nimmst Du nicht die frischen gelben Rosen?“ fragte Lucie, „sie kleiden Dich so gut.“

„Weil ich nicht will! – Ich bitte Dich, sieh mir nicht so zu; es macht mich nervös!“

Lucie ging schweigend hinaus und wartete im Salon. Sie hörte, wie Kästen zur Erde fielen und Hortense’s Fuß heftig den Boden trat. Endlich kam die junge Frau; sie trug einen Touffe von blaßblauen Straußfedern im Haar und einen Schmuck von Türkisen und Perlen. Schweigend verließen sie das Zimmer und stiegen die Treppe hinab. Durch das erleuchtete Vestibül ging eben ein Kellner mit einem prachtvollen Tafelaufsatz aus frischen Blumen und verschwand hinter der Thür des kleinen Speisesaales. Hortense hatte wie zerstreut danach hingesehen. „Hier wird ein Fest gefeiert,“ sagte sie, als sei sie froh, einen harmlosen Anknüpfungspunkt zu finden.

„Herr Rittmeister von Wilken giebt nach dem Theater seinen Schwiegereltern, dem Fräulein Braut und einigen Verwandten ein kleines Souper,“ erklärte dienstbeflissen der Oberkellner, der jetzt vorüberschritt.

Hortense neigte dankend den Kopf und trat in die leichte Dämmerung des Frühlingsabends hinaus. „Wir werden zu spät kommen, Lucie,“ sagte sie völlig ruhig, „eilen wir ein wenig!“ Sie kamen in der That kurz vor Beginn der Ouverture; das Haus war voll besetzt, eine fremde Sängerin gab die Susanna im „Figaro“.

Sie traten in eine Loge des ersten Ranges; an der Thür stand, sich verbeugend, ein Herr, als hätte er ihrer gewartet – Waldemar Weber.

Frau von Löwen schritt an ihm vorüber, sie schien ihn nicht bemerkt zu haben; nachdem aber Lucie neben ihr Platz genommen, ließ er sich in den nächsten Fauteuil nieder mit einem so unbefangenen Ausdruck in den energischen Zügen, als komme ihm dieser Platz von Gottes- und Rechtswegen zu, als sei er der einzige richtige für ihn in dem großen Raum. Lucie achtete kaum auf ihn; sie musterte mit heißer Angst die Logen des ersten Ranges, dann fuhr es ihr schreckhaft durch die Glieder: dort drüben, dicht neben der königlichen Loge, saß Wilken in Uniform zwischen einer stattlichen alten Dame und einem jungen Mädchen in Rosakleide, das noch den blonden Zopf lang über den Rücken herunter hängen ließ und mit lächelndem Antlitz ihm zuhörte. Hinter ihm ein alter Herr in Civil und zwei junge Officiere.

Bang wandte sich Lucie zu Hortense, und just in diesem Moment kehrten die Blicke der jungen Frau von dem nämlichen Bilde zurück; die großen grauen Augen hatten einen todestraurigen Ausdruck in diesem unbewachten Augenblick. Unwillkürlich faßte Lucie nach der schmalen Hand, die ihr unwillig entzogen wurde. Hortense saß ruhig in ihrem Fauteuil und sah scheinbar mit größtem Interesse auf die Bühne, wo eben Susanna den Hut vor dem Spiegel aufprobirte und Figaro das Zimmer ausmaß.

Lucie sah und hörte Alles wie im Traume; sie wußte, neben ihr litt Hortense tausend Qualen; erleichtert athmete sie auf, als der Akt vorüber war. Die Logen wurden leer. Alles drängte in die Foyers. Auch Hortense erhob sich. Sie gingen langsam zwischen den plaudernden, lachenden Menschen dahin, dann strebte die junge Frau zu dem Büffett. „Mich dürstet,“ sagte sie.

In dem prächtigen säulengetragenen Raum befanden sich wenige Menschen; nur einzelne Gruppen standen vor dem zierlichen Kredenztisch oder saßen auf den Sofas an der Marmorbalustrade. Auch Hortense setzte sich wie ermüdet. Als Lucie ein Glas Selters verlangte, sagte eine Stimme neben ihr: „Bemühen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein, ich halte das Verlangte bereits in der Hand.“ Waldemar Weber bot ihr ein Glas des perlenden Wassers und wandte sich dann zu Frau von Löwen.

Lucie sah sich um und vergaß zu trinken; sie war überzeugt, Hortense würde unartig werden in ihrer heutigen Stimmung. Aber sie traute ihren Augen nicht – die junge Frau nahm lächelnd das Glas und wies neben sich auf das Sofa, und er nahm Platz neben ihr. Und nun wußte Lucie auch, warum? Gegenüber auf dem niedrigen Divan saß Wilken mit seiner Braut, die mit kindlichem Appetit eine Schale Eis verzehrte und nicht bemerkte, wie die Blicke ihres Bräutigams auf der schönen Frau in dem duftigen schwarzen Kleide ruhten.

Hortense sah in diesem Momente wirklich reizend aus. Das Lächeln und Plaudern stand ihr gut, und wie sie den feinen Kopf etwas nach der Seite hielt und mit dem Fächer aus blauen und schwarzen Straußfedern spielte, blieb mehr als ein Blick an ihr hängen.

Aber der Kavalier paßte nicht zu der stolzen Erscheinung, meinte Lucie; er hatte Etwas – ja, sie konnte es nicht definiren: am Anzug lag es nicht, auch nicht an der Figur, er war ein großer stattlicher Mann – an der etwas spießbürgerlichen Art, wie er mit Frau von Löwen verkehrte, dachte Lucie endlich. Sie setzte das unberührte Glas auf das Tischchen und blickte in die zurückfluthende Menge; es hatte bereits zum Beginne des zweiten Aktes geläutet.

Auch Hortense erhob sich und schritt, die Fingerspitzen auf den Arm des Herrn Weber gelegt, dicht hinter dem Brautpaare einher. Sie hatte Lucie, zu sich gewinkt und hielt deren Hand in der ihren. Lucie sah, wie ihre Augen bei dem lebhaften Sprechen unablässig auf dem schlanken Officier vor ihr ruhten. „Hortense,“ fragte das Mädchen, während sie ihre Plätze wieder einnahmen, „was soll das bedeuten?“

„Nichts,“ war die Antwort; „nach dem nächsten Akte gehen wir; ich bin todmüde.“

Sie kam wirklich wie eine völlig Erschöpfte in das Hôtel und in den Salon zurück. Der Theetisch stand gedeckt, und die Kerzen brannten vor dem Spiegel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_118.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)