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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


„Warte!“ rief sie und kam heraus, und im nächsten Augenblick saßen sie sich gegenüber in einem leeren Koupé dritter Klasse, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

Ein Weilchen fuhren sie still dahin, Keines sprach ein Wort. Der kleine Bursche mit dem blassen Gesicht und den Augen, aus denen eine bange Frage an ein unverstandenes, bitteres Schicksal sprach, blickte unverwandt zum Fenster hinaus. Lucie konnte vor Thränen nicht reden, als sie das Kind vor sich sah, dem die Mutter so früh genommen war.

„Gestern hat’s der Vater schon geschrieben,“ begann er endlich; „aber Frau Müller hat es mir erst heute gesagt, und daß ich kommen soll. Er hat es Dir wohl auch geschrieben, Tante?“

Der kleine Kerl biß nach diesen Worten die Zähne auf einander, damit ihn die Thränen nicht übermannten.

Lucie nickte, und dann saß sie neben ihm und legte die Arme um das Kind und begann leidenschaftlich zu weinen.

„Wie ich das letzte Mal draußen war,“ sagte der Kleine, der diese Liebkosung, ohne sich zu rühren, hinnahm, „– am Sonntag – da hat Mutter gedacht, Du kämst, sie hatte auch Kuchen backen lassen. Sie meinte, sie wüßte es ganz genau, weil sie Dir geschrieben, daß sie krank ist. Warum bist Du denn nicht gekommen, Tante?“

Sie weinte noch heftiger, die Vorwürfe des Kindes trafen sie wie Dolchstöße.

„Sie war ja gar nicht böse,“ tröstete der Junge gutmüthig, „bloß traurig war sie.“

Lucie ließ ihr Tuch sinken und starrte auf das hell lackirte Holzwerk des Wagens und von da auf den Regen draußen.

„Morgen wird sie begraben,“ meinte der Kleine. „Herr Müller hat mir Ferien gegeben; ich darf acht Tage beim Vater bleiben; weil ich doch der Aelteste bin,“ setzte er stolz hinzu. „Da ist schon Schulzenskamp, nun werden wir gleich da sein,“ fuhr er fort. Und mit dem nämlichen traurigen Ausdruck der klaren Kinderaugen fragte er. „Bleibst Du nun bei uns, Tante?“

Sie nickte hastig und strich sich die Haare aus dem verweinten Gesicht.

„Ist’s wahr?“

„Ja, mein Junge.“

Auf der winzigen Haltestelle am Waldesrand war keine Menschenseele. Sie standen im Regen auf dem Kies vor dem Wärterhäuschen und sahen in das Wetter.

„Wir wollen nur gehen,“ meinte der Kleine; „der Vater weiß nicht, daß Du kommst, und ich – laufe ja immer.“

Sie gingen auf dem Waldweg dahin, den alten wohlbekannten Pfad. Der Nebel hing in dem jungen Laub der Buchen und das Wasser stand in den Gleisen des Weges.

„Gieb mir Deine Hand, Konrad,“ bat Lucie, als könne der Knabe ihr eine Stütze sein. In ihrem unsagbaren Schuldbewußtsein meinte sie, der Schwager müsse sie von dem Todtenbette der Schwester weisen.

„Die Hunde, Tante, hörst Du sie?“ fragte der Junge.

Sie nickte; dort unten tauchte das Haus auf. „Geh lieber voraus,“ stammelte sie, „und sag’s dem Vater, daß ich komme.“

Der Kleine lief voran, aber als er dem Hause näher kam, verlangsamte sich sein Schritt. Lucie sah, wie er zögernd die Stufen der Hausthür emporstieg. Ebenso langsam kam sie nach.

In dem großen mit Hirschgeweihen geschmückten Hausflur, der im Sommer zugleich als Speisezimmer diente, war es mäuschenstill; nur die Schwarzwälder Uhr tickte an der Wand. Die Thür zu des Schwagers Stube war angelehnt, und daraus hervor drang jetzt eine Frauenstimme, die Lucie nicht kannte, tröstend und mahnend. „Um der Kinder willen, Vetter – die armen Würmer! Wer wird denn solche Gedanken haben! – Ja, das wäre wohl bequem, wenn Eines dem Andern gleich nachsterben könnte? – Versündigen Sie sich nicht, kommen Sie und essen etwas!“

Lucie ging hinüber und öffnete die Thür. Sie that ein paar Schritte in die Stube hinein, dem Manne entgegen, der da wie gebrochen in der Ecke des Ledersofas saß, den Kopf in die Hand gestützt.

„Georg!“ sagte sie und hielt sich am Tisch. Sie sah zum Erbarmen aus, die blassen Lippen konnten nicht weiter sprechen.

Er blickte auf und erhob sich. „Du kommst zu spät, Lucie.“

Sie stand ganz still, mit gefalteten Händen. Ein kleine dicke Frau in den fünfziger Jahren, mit schlichtem Scheitel, einer Stumpfnase und hellen harten Augen, die über ihrem lila Kattunkleide eine schwarze Schärpe, schwarze Bänder an der Haube und ein schwarzes Halstuch trug, trat zu ihr.

„Ach, Sie sind wohl die Schwester, auf welche die selige Frau so gewartet hat? Lieber Gott, ja, es ist freilich sehr schwer, wenn man kommt, und es ist Alles vorüber. Aber Sie sind ja naß wie eine Made! Haben Sie denn trockenes Zeug bei sich? Na, warten Sie nur, ich hole heißen Kaffee; der Mensch soll essen und trinken auch an solchen Tagen.“

Sie nahm dem Mädchen Hut und Mantel ab und ging dann hinaus. Der Oberförster ging im Zimmer umher; er trat schwer und müde auf und hielt sich gebeugt. Lucie meinte, er sei um Jahre gealtert. Sie stellte sich ihm mit den noch immer gefalteten Händen in den Weg.

„Bringe mich zu ihr,“ bat sie.

Er wies mit der Hand nach der Thür. „Drüben liegt, was noch übrig ist – sie kann Dir nichts mehr sagen.“

Lucie ging hinaus und über den Flur durch das Wohnzimmer. Die drei ältesten Kinder saßen da um den großen mit Wachstuch bezogenen Tisch; die Mädchen von neun und acht Jahren, mit verweintem Gesicht, hantirten geschäftig in grünen Blättern herum; der Junge, von der schrecklichen Gewißheit überwältigt, hatte die Arme auf den Tisch gelegt, den Kopf darein verborgen und schluchzte jämmerlich. Das jüngste Dreijährige aber stand an der Thür, die in das Schlafzimmer der Verstorbenen führte, und über die runden Kinderwangen liefen helle Thränen; die ganze kleine Gestalt bebte im Weinen. „Mach’ auf!“ rief es, „mach’ doch auf!“

Lueie nahm das Kind auf den Arm. „Komm,“ sagte sie und trat in das Sterbezimmer. Sie schritt mit der still gewordenen Kleinen zu dem Lager; ein weißes blumenbestreutes Laken war darüber gebreitet. Sie wagte nicht, das Tuch zurückzuschlagen, um das stille Gesicht zu sehen.

„Mama!“ sagte die Kleine. Da nahm sie das Linnen zurück und hockte mit dem Kinde vor dem Bette nieder und faltete die Hände über demselben. Und ihr thränenüberströmtes Gesicht schmiegte sich an die kalte Wange der Todten.

„Vergieb mir!“ schluchzte sie, „vergieb mir!“

Aber diese müden Augenlider hoben sich nicht mehr, und der Mund blieb stumm.

Als die alte Frau einige Minuten später in das Zimmer trat, da lag eine Bewußtlose vor der Todten, und die Kleine saß neben ihr und spielte mit den Blumen, die sie von dem Lager genommen –

Der Begräbnißtag nahte sich seinem Ende, der Wagen der letzten Leidtragenden rollte eben den Waldweg entlang; im Hause war es still geworden. Die Kinder saßen im Hofe und kamen sich wichtig vor, weil ein Jeder sich heute mitleidsvoll mit ihnen beschäftigt hatte. Die kleinen Mädchen sahen komisch aus in den schwarzwollenen Kleidchen, die ihnen fast zu lang waren. Sie hatten das Schwesterchen in die Mitte genommen und thaten mütterlich mit ihr; der Junge aß ein Stück Kuchen mit verweinten Augen. Der Oberförster kam an ihnen vorüber; er sah nach der andern Seite, als könne er den Anblick nicht ertragen. Er hatte das Gewehr übergehängt und schritt, von seinem Hunde gefolgt, über den Hof zum Thore hinaus. Im Wohnzimmer, wo sonst die Verstorbene gesessen, saß nun die kleine ältliche Frau und ruhte sich aus von den Strapazen der letzten Wochen und des heutigen Tages. Lucie, die am andern Fenster stand und ihrem Schwager nachschaute, wußte nun, daß diese Frau ein Recht hatte, hier zu sitzen; sie war eine Verwandte und sollte, wie sie dem jungen Mädchen mitgetheilt hatte, im Hause bleiben der Wirthschaft und der Kinder wegen; und so genau Lucie das wußte, so wußte sie auch, daß sie hier überflüssig war. Sie hatte den Kopf an das Fensterkreuz gelegt und sah, wie der große Mann eben zwischen den Stämmen der Buchen verschwand. Er lief dahin in seiner Verzweiflung; ihm war das Haus öde, das Leben einsam jetzt. Sie hatte versucht, mit ihm zu sprechen, als sie heute früh vor dem Sarge zusammengetroffen waren; sie hatte nach seiner Hand gegriffen – er sah weder ihre Thränen, noch schien er ihre Hand zu fühlen. „Laß nur gut sein!“ hatte er gemurmelt.

Ihr Versuch, bei dem Herrichten des Frühstücks zu helfen, das für die Leidtragenden in der guten Stube aufgesetzt wurde,

war fehlgeschlagen. Die Kousine hantirte in Speisekammer und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 135. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_135.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)