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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

In der Stube aber blieb Alles still, und als sie endlich an die Betten trat, da schliefen die Kinder süß und friedlich. Vorsichtig hob sie die kleine Marie im Bettchen hoch und wand ihr den Umschlag um den Hals und knieete nieder und küßte das Kind heiß und innig. Dann ging sie in ihr Stübchen hinüber und saß da am Fenster lange Zeit.

„Zu Tische!“ schrillte draußen die Stimme der Kousine, und ein harter Finger klopfte an die Thür.

Sie antwortete nicht und rührte sich nicht. Die Pantoffeln klapperten wieder die Stiege hinunter, vom Flur scholl das Klirren von Tellern und Gläsern herauf und die Stimmen der Männer. Georg mochte zurückgekehrt sein aus dem Walde.

Sie lauschte dem spärlichen Hin- und Herreden. Dann fuhr ein Wagen vom Hofe und hielt mit Peitschenknallen vor der Hausthür; dort unten rückten Stühle und wurden Abschiedsworte gesprochen. Lucie verstand sie nicht. Sie hatte die Hände in einander gepreßt und den Kopf gesenkt. Er ging noch heute Abend!

Nun fiel die Hausthür zu, der Wagen rasselte über das Pflaster, dann verklang das Rollen auf dem weichen Waldwege; still ward es draußen und drinnen. Nur die alte Uhr schwang ihren Pendel weiter, es war, als klinge ihre Stimme höher, froh, daß sie nun allein das Wort führe; und die Glockenschläge, die sie nachhallen ließ, unbekümmert, ob sie gute oder böse Stunden verkünden, die zählte ein schlafloses langes Geschöpf, und erst der Morgen brachte einen kurzen Schlummer den müden Augen.

Als Lucie am andern Tage in das Wohnzimmer trat, kam sie mit einem Entschluß, den sie in der bangen Nacht sich abgerungen. Sie wollte ihren Schwager bitten. „Laß mich bei Dir bleiben, ich will Deine Kinder pflegen und erziehen.“ Sie war ruhiger geworden und trat an den Frühstückstisch, vor dem er saß, mit jener Sicherheit, die ein ehrlicher fester Wille auch in schweren Augenblicken verleiht. Die Hausthür war weit geöffnet, draußen spielte der Sommerwind in den hohen Bäumen, und die Sonnenstrahlen huschten neckend über die Blondköpfe der Kinder, die auf der Bank unter der Linde hockten.

Lucie bot ihrem Schwager die Hand, dann deutete sie hinaus und fragte. „Georg, kann ich Dir nützlich sein für diese? Sag’s, und ich will mir alle Mühe geben, Deine Wünsche zu erfüllen.“ Sie sprach es hastig, denn eben trat ihr das Bild wieder vor die Seele, das sich die ganze Nacht hindurch in ihre Träume gedrängt: Hortense, mit der verzweiflungsvollen Miene der letzten Tage in Dresden. Dort stand ja auch eine geöffnete Schachtel auf der Ecke des Tisches; ein wundervoller Kranz weißer Rosen lag darin und auf ihm eine zierliche Visitenkarte, unter siebenzackiger Krone den Namen „Hortense von Löwen, geborene von Löwen“.

Der große Mann mit dem bekümmerten Gesicht schüttelte den Kopf und goß sich ein Gläschen Nordhäuser voll. „Mathilde hat noch selbst, ein paar Tage vor ihrem Tode, eine Erzieherin engagirt; sie kommt zu Johanni.“

Lucie wurde um einen Schein bleicher. Sie setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber und sah auf die kleinen Mädchen, die den gelben Teckel vor ein umgekehrtes Fußbänkchen gespannt hatten, in dem sie ihre Puppen spazieren fuhren.

„Für die Wirthschaft sorgt meine Kousine,“ fuhr er fort. „Aber mach’ Dir deßhalb keine Sorgen. Es ist in den schweren Tagen der Krankheit ohne Dich gegangen, es wird auch jetzt gehen, muß gehen,“ schloß er, aber er wich dem jammervollen Blick der beiden Augen aus.

„Mariechen ist kränklich?“ stotterte sie.

„Eine Kleinigkeit!“ wehrte er ab.

„Laß mich hier bleiben,“ flüsterte sie, „ich will das Kind pflegen, wie es nur seine Mutter gekonnt – um Mathildens willen laß mich hier!“

„Es ist ein trübseliger Aufenthalt in meinem Hause, ich danke Dir. Und warum solltest Du eine Stellung aufgeben in der Du Dich wohl befindest?“ Er erhob sich, trat zu dem Bord, an dem Hut und Gewehr hingen, und nahm das letztere über die Schulter. „Aber ich danke Dir vielmal,“ wiederholte er und pfiff seinem Hunde.

„Ich gebe doch keine Stellung auf!“ widersprach sie.

Er blieb stehen und sah sie an. „Die Frau von Löwen sollte mit ihrer Gesellschafterin kein Abkommen getroffen haben? Das wäre schlimm für Dich und nicht nobel von der Gnädigen. Zudem, es war die einzige Entschuldigung in meinen Augen für Dein Fernbleiben. Als Besuch, wie ich anfänglich wähnte, dünkt mich die Zeit etwas unbescheiden lang.“

Lucie stand auf. „Du verkennst die ganze Sachlage, Georg,“ sagte sie ruhig. „Hortense ist mir eine Freundin, und, und –“

„Meinetwegen nenne sie so,“ unterbrach er. „So lange sie Dich braucht, wirst Du wohl auch bleiben; aber eines schönen Tages wird sie heirathen und Du bist kaltgestellt. Ich habe übrigens Deiner Schwester versprochen, daß Du jeder Zeit eine Zuflucht hier findest. Guten Morgen!“ Er rückte den Hut und ging hinaus. Ueber Luciens blasses Gesicht flog ein trauriges Lächeln. Sie stieg die Treppe hinauf, holte sich den Hut, dann nahm sie den Kranz aus der Schachtel und verließ ebenfalls das Haus. Sie wollte nach dem Kirchhof gehen.

Die kleinen Mädchen kamen ihr nachgesprungen, sie wehrte ihnen das Mitgehen, sprechen konnte sie nicht, so weh war ihr zu Muthe. Sie fühlte jetzt eine brennend heiße Sehnsucht nach Hortense, nach dem Augenblick, wo sie ihren Kopf an die Schulter der jungen Frau legen konnte und sagen: „Nun habe ich weiter Niemand mehr in der Welt, als Dich! Meine einzige Zuflucht bist Du!“ Nie meinte sie Hortense so lieb gehabt zu haben, wie in diesem Moment, wo man so plump an ihrer Freundschaft zu zweifeln wagte.

Sie ging mit heißen Wangen und erhobenem Kopf durch den Wald. Sie mußte an der kleinen Haltestelle vorüber.

„Geht der Zug noch wie früher um fünf Uhr Nachmittags hier ab?“ fragte sie den Beamten in dem winzigen Stationsgebäude.

„Ja, Fräulein.“

„Ich danke!“ Und sie schritt weiter die Chaussee nach dem Dorfe entlang. Die Ebereschen zur Seite des Weges standen in Blüthe, in vollster Frühlingspracht rauschte der Wald, und aus dem jungen Korn stiegen jubilirend die Lerchen in den blauen Himmel empor. Die Pforte des Gottesackers stand weit geöffnet; die Fliederbüsche hingen ihre duftenden Zweige über die Gräber und eine Schar Kinder tummelte sich zwischen ihnen umher. Der Todtengräber, den Spaten in der Hand, kam ihr entgegen. „Dort hinten, Fräulein“ sagte er, „in dem neuen Theil.“

Es sah noch so wüst aus, das Grab, Erdschollen lagen um den frisch aufgeworfenen Hügel und die Kränze waren schon verwelkt – dicht daneben hatte man bereits ein frisches Grab geschaufelt. Es stand hier noch kein Baum, der kühlen Schatten spendete, die Sonne brannte erbarmungslos herunter. Das Mädchen legte Hortense’s Kranz zu Füßen des Grabes und verharrte regungslos daneben, den öden Hügel anschauend; sie meinte zu sterben vor Weh, und doch kam keine Thräne aus ihren Augen. War es denn so furchtbar, was sie gethan? Sie hatte versöhnen, wieder gut machen wollen, ihre ganze Kraft, ihr ganzes junges Leben hatte sie einsetzen wollen für Mathildens Kinder, und – sie ward zurückgewiesen.

Sie schritt wieder durch den Haupteingang des Kirchhofes, in der Hand ein paar halbverwelkte Cypressenzweiglein, die sie sich aus einem der Kränze genommen. Als sie aus dem Thore des Gottesackers hinaus war, begann sie schneller zu gehen. In der Dorfstraße begegnete ihr der alte Briefträger, sie kannte ihn noch gut, er hatte ihr einst schmunzelnd den ersten Brief von dem Bräutigam gebracht.

„Hier habe ich etwas für Sie,“ sagte er, „und dies für den Herrn Oberförster. Nehmen Sie es gleich mit? Danke auch schön.“

Lucie hielt die Schreiben in der Hand, das für sie bestimmte war von Hortense. „Gott sei Dank – von ihr!“ sagte sie. Als ob eine warme treue Hand die ihre ergriffen, so tröstlich ward ihr auf einmal zu Muthe. Ob sie ihr wohl zürnte?

Als sie in den Waldweg einbog, wollte sie den Brief öffnen; sie besann sich aber und schritt nur eiliger vorwärts dem Hause zu.

Die Kousine füllte eben, auf Mathildens Platz am oberen Ende der Tafel sitzend, die Suppe auf. Noch fehlte der Hausherr, aber die jungen Forsteleven standen bereits hinter ihren Stühlen, eben so waren die Kinder zur Stelle. Lucie legte die Briefe auf Georg’s Platz und flog die Treppe hinan. In ihrem Stübchen legte sie den Hut ab und wusch das erhitzte Gesicht und die Hände, dann zog sie das Schreiben hervor. Nur einen Blick, ehe sie hinunter ging. Hastig rissen ihre Finger das Kouvert auf und entfalteten den kleinen starken Bogen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_139.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)