Seite:Die Gartenlaube (1887) 198.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


 „Meine Luz!

Bitte, packe umgehend Deine nöthigsten Sachen und komme. Wir sind bereits seit zwei Tagen auf Woltersdorf: ich hielt es nicht mehr aus in Frankfurt zwischen den mir doch sehr fremden Menschen, die mich wie ein Meerwunder begafften und von einem Diner zum andern zerrten. Der einzige Lichtstrahl ist seine Mutter. Dafür erfreut er sich einer jung verheiratheten Schwester, die mich durch ihre Neugier aus einer Aufregung in die andere trieb. Sie wich nicht von meiner Seite und hätte am liebsten gesehen, ich führte meine Vergangenheit in photographischen Aufnahmen bei mir.

‚Wem siehst Du ähnlich, Hortense, Deinem Vater oder Deiner Mutter?‘

‚Wo lebt Dein Papa jetzt?‘

‚War er auf der Hochzeit?‘

‚Was hattest Du für ein Brautkleid?‘

‚Nicht wahr, Dein Vater war Officier?‘

Weber hatte natürlich so viel zu thun – er war ja fast während eines Jahres auf unseren Spuren – nach der langen Trennung seiner Mama zu berichten, wie es ihm ergangen, daß er meine Situation nicht bemerkte. Da erklärte ich am vierten Abend unseres Dortseins, ich wollte fort.

‚Wohin?‘

‚Es ist mir gleich, nur fort.‘

‚Dann nach Hause,‘ sagte er. – Ich glaube, er hatte Lust, die Sache etwas übelzunehmen, ich beachtete es aber gar nicht. So kamen wir denn hier an.

Woltersdorf ist so nett, wie ich es noch in der Erinnerung hatte; am meisten freute ich mich, als mir der Goldfuchs und die ‚Hella‘, die einen Tag vor uns mit Gerd eingetroffen waren, entgegen wieherten; mein erster Gang war in den Stall. – Dein Zimmer habe ich heute früh ausgesucht, vor den Fenstern plätschert ein Springbrunnen, eine steinerne Nymphengesellschaft lagert um denselben her im Schatten alter Linden; es ist Rokoko, echt Rokoko. Komme bald, Luz! Deine Sachen laß durch Minna verpacken, sie mögen mit meinen Kisten und Kasten hergeschickt werden. Telegraphire, mit welchem Zuge Du kommst, ich hole Dich von

der Haltestelle ab.

Deine Hortense.“ 

Lucie stand bereits am andern Morgen reisefertig vor Mademoiselle, die kleine Dame hatte Kopfschmerzen und war zum Weinen aufgelegt.

„Grüßen Sie mir Hortense, Lucie, vergessen Sie nicht zu schreiben! Denken Sie, daß wir hier leben wie in einer Gruft, der Baron und ich, und daß Madame und Monsieur die Verpflichtung haben, uns zu besuchen. Leben Sie wohl! Ich begleitete Sie gern zum Bahnhof, aber ich fürchte, meine Nerven halten es nicht aus.“

Sie küßte des Mädchens Stirn und wandte sich schluchzend ab. Lucie ging, um dem Baron Adieu zu sagen.

Als sie die Thür öffnete, erblickte sie Doktor Adler beim Glase Wein mit dem alten Herrn.

„Ah, Sie kommen, Abschied zu nehmen!“ rief er. Lucie trug eine kleine Reisetasche am Riemen über der Schulter und einen leichten Mantel über dem Arme. Und er streckte ihr die Hand hin. „Leben Sie wohl, liebes Kind, alles Glück für Schloß Woltersdorf und seine Bewohner!“

Sie wagte nicht, die Augen aufzuschlagen. „Adieu!“ stammelte sie, und ihre Hand aus der des Barons befreiend, wendete sie sich rasch um und schritt der Thür zu. Sie hörte, wie Adler den Stuhl wieder heran schob, von dem er aufgestanden, und in einem unterbrochenen Gespräche fortfahrend zu dem alten Herrn sagte: „Da bin ich nicht ganz Ihrer Meinung, Herr Baron“ –. Es klang völlig ruhig. Die unbewegte tiefe Stimme tönte ihr noch in den Ohren, als sie, schon meilenweit entfernt von Hohenberg, sich dem Ziele ihrer Reise näherte.

Es war gegen Abend, als sie anlangte auf der kleinen Haltestelle, die mitten im freien Felde lag. Auf dem kiesbestreuten Platze vor dem hölzernen, vorn offenen Gebäude stand Hortense in staubgrauem Leinenkleide, hinter ihr ein Diener. Sie spähte zu den ersten Wagen hinüber und merkte es nicht, daß am Ende des Zuges ein junges Mädchen ausstieg und zu ihr eilte.

„Hortense!“ rief es neben ihr, und die Beiden hielten sich in den Armen, als seien sie jahrelang getrennt gewesen.

„Wie geht es Dir?“

„Und Dir?“

„Und bist Du gern gekommen, Luz?“

„O, so gern!“

Sie saßen dann in dem eleganten Landauer und fuhren in raschem Trabe durch den duftigen dämmernden Sommerabend der neuen Heimath zu.

„Entschuldige, daß Weber Dich nicht begrüßte; er wollte kommen – ich weiß nicht, wo er geblieben, er hat sich mit solchem Eifer auf die Wirthschaft gestürzt –“

„O bitte, Hortense!“ Und Lucie sah in das schöne Gesicht der jungen Frau, über dem ein müder Zug lag. „Wie freue ich mich auf Deine Heimath!“ sagte sie, Hortense’s Hand fassend.

„Wir sind gleich da, dort sieht schon das Dach über den Bäumen hervor.“

Sie fuhren jetzt hinter dem Dorfe herum und bogen in eine dunkle Lindenallee, am Ende schimmerte es licht. In dem letzten rosigen Tagesscheine sah Lucie weite Rasenplätze, prachtvolle Baumgruppen, die sich in Wasserflächen spiegelten, und altersgraue Sandsteinfiguren. Sie befanden sich im Park. Nun lag vor ihnen ein weißes Schlößchen, steinernes Blumengerank und eben solche Arabesken umschlangen Thüren und Fenster, verschnörkelt, kraus und unregelmäßig, und doch unendlich reizvoll lag diese Laune einer lustigen heiteren Zeit inmitten der ernsten grünen Umgebung. Blau und weiß flatterte eine Fahne im Abendwind und blau und weiß war das Zelt auf dem Rasenplatz und das Schutzdach über der Auffahrt – Hortense’s Lieblingsfarben.

Vor dem weit geöffneten Portale hielt der Wagen, der Diener half den Damen beim Aussteigen, ein Mädchen in weißem Häubchen und blendend weißer Schürze sprang herzu und nahm das leichte Reisegepäck Luciens in Empfang.

„Willkommen!“ sagte Hortense noch einmal und küßte sie auf den Mund. „Jetzt ist mir schon ganz traut und heimlich, nun Du da bist.“

Sie faßte Lucie an der Hand, und so stiegen sie die weißen, mit blauem Teppich belegten Marmorstufen hinauf. Ueberall Stuckverzierungen, neben ihnen, über ihnen, und Deckengemälde in zarten Farben, und überall wiederholte sich an Wanddekorationen und Malereien ein Schmetterling, bald weiß, bald vergoldet, bald in matter blauer Farbe, um eine Rose flatternd.

„Allerliebst!“ sagte Lucie bewundernd, „was bedeutet dieser Schmetterling?“

„Der Erbauer dieses Schlosses hieß bei Hofe ‚le papillon‘,“ erklärte Hortense; „die Herrschaften hatten einen Orden gestiftet – das sind nun annähernd hundertundsechzig Jahre her – der hieß ‚des Hermites de bonne humeur‘, sie trugen Pilgerkleider von braunem Taffet, blumenbekränzte Hüte und rosenroth bebänderte Stäbe. Geistreich und lebenslustig, amüsirten sie sich wie die Götter. Das Ordenszeichen war eine Schleife von weißem Band mit der Devise: ‚Vive la joie!‘ Sie gaben sich lauter neckische unsinnige Namen, der liebenswürdige Graf R. hieß also der ‚Schmetterling‘ und hat den lustigen Eremiten die brillantesten Feste hier gegeben. Du kannst dieses harmlose Emblem an allen Zimmerdecken, auf allen Bildern und Möbeln wiederfinden. Bitte, Lucie, hierher.“

Sie waren durch ein kleines Entrée geschritten, und Hortense öffnete linker Hand eine weißlackirte Thür. „Möge es Dir gefallen!“

„O Hortense, wie schön!“ sagte Lucie.

Sie standen auf einem spiegelglatten Parkett; weißer, mit Rosenbouquetts bedruckter baumwollener Stoff bekleidete die Wände, das Himmelbett, die Polsterstühle. Ein Marmorkamin mit Spiegel, verschnörkelte weißlackirte Möbel, unter der Decke eine rosa Ampel und durch die Fenster die rosige Beleuchtung des Abends – es war wie ein Märchen.

Hortense setzte sich in eins der kleinen Sesselchen. „Mach’ es Dir bequem,“ sagte sie und nahm den Hut ab, „ich warte auf Dich, dann können wir speisen. – Ist Herr Weber daheim?“ fragte sie das Mädchen, das Luciens Sachen eben brachte.

„Der Herr ist noch nicht zurück!“

„Thut nichts – wir wollen in einer Viertelstunde essen; bestellen Sie es unten!“

Lucie machte eilig ihren Anzug ein wenig zurecht, bürstete

den Reisestaub ab und ordnete die blonden Haare. „Mir ist’s,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_198.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)