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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Hundertfünfzig bis jetzt!“

Ein Glöckchen ertönt; ein Priester mit dem Sakrament geht den schmalen Steig aufwärts zur Osteria; ich folge ihm. Unten in der Stube ist der Verbandsplatz. Karbolluft weht entgegen. Aechzen, Stöhnen, laute Gebete; blutgetränkte Verbände um verstümmelte Glieder, schmerzverzerrte Züge überall; zwei Soldaten schleppen eben einen Körper nach oben; da oben ist’s still, und der gehört wohl auch zu den Stillen. Ich werfe nur einen Blick in den Raum; er ist erfüllt von Opfern dieser Nacht: ein mitleidiges Tuch bedeckt das Grauenhafte.

Neben der Osteria steht eine kleine Kapelle; dort knieen sie in dichten Scharen vor dem Bilde der Schmerzensreichen; sie muß sie verstehen mit den Schwertern in der Brust. Von dem Dorfe her schmettern die Trompetensignale der Soldaten.

Bussana ist ein Trümmerhaufen; nur der schlanke weiße Kirchthurm ragt unversehrt empor. Die weißen Häuser sind in der Mitte gespalten; die armseligen Wohnungen liegen offen jedem Blick; dort steht ein zerwühltes Bett, ein Tisch mit Geschirr am Rande des Abgrundes; bunte Bilder hängen noch an den rissigen Wänden. Balken, Mauern, Dächer ragen in wirrem Durcheinander in die Luft; hier und da steigt eine Staubwolke in die Höhe von einer nachstürzenden Mauer. Gestern um diese Zeit flogen die Confetti zu Nizza – erschütternder Kontrast!

Voll von dem Eindruck, voll bitterer Philosophie kehre ich zurück; vielleicht ereilt San Remo heute Nacht dasselbe Schicksal.

Es dunkelte schon, als ich nach San Remo zurückkam; es war unterdeß zum Feldlager geworden. In allen Gärten der Villas und Hôtels, in den öffentlichen Anlagen unter den Palmen waren Baracken und Zelte aufgeschlagen, um die Nacht hier zuzubringen; auf den freien Plätzen brannten Feuer, um die sich Alles drängte. Gepäcksstücke, Koffer, Reisetaschen lagen überall umher. Unten am Meere waren die Fischerboote ans Land gezogen, mit Plaids, Tüchern, Segeln bedeckt, aus denen es transparentartig durchleuchtete. Die verwöhnteste Lady schien heute mit Allem zufrieden zu sein; die Wagen waren schon längst alle in Beschlag genommen. Die Häuser und Hôtels, sonst um diese Zeit hell erleuchtet, lagen dunkel, düster. Ich traf einige Landsleute, und wir beschlossen, wenigstens bis Mitternacht den allgemeinen Jammer, die Beklommenheit beim bayerischen Bier zu vergessen. Es gelang uns auch eine Zeit lang; als aber der Zeiger schon über 12 hinausrückte und sich immer mehr der verhängnißvollen Stunde von gestern näherte, verstummte das Gespräch; wir waren die Letzten im Bade. Auf der Promenade am Ufer des Meeres wollten wir Obdachlosen die Nacht verbringen; im Falle einer Katastrophe war man hier unbedingt am sichersten. Man hätte beim Anblick der Gestalten, die sich hier bewegten, glauben können, der Karneval beginne von Neuem. Damen und Herren in weiße Bettdecken gehüllt, in farbige Teppiche, um sich vor dem kalten Seewind zu schützen; auf den Bänken, im Dunkel unkenntliche Massen, Berge von Tüchern, Pelzen, unter denen sich hier und da durch eine plötzliche Bewegung lebende Wesen verriethen. Ich war nicht so gut ausgerüstet, die Kälte war empfindlich – und dabei der Gedanke, daß unzählige schwer Leidende, die sonst das Zimmer nicht verlassen konnten, eine ganze Nacht derselben ausgesetzt waren! – Ich ging den Molo auf und ab und hatte Muße zu philosophiren beim einförmigen Rauschen des Meeres, dem Sternengeflimmer über mir, dem wankenden Boden unter mir. Man erwartete mit Sicherheit gegen Morgen einen weiteren Stoß, der bei den beschädigten Gebäuden verhängnißvoll werden mußte. Der Gedanke war schon zur Manie geworden; man wartete auf seine Erfüllung; man war fast enttäuscht, daß sie nicht kam.

Gegen 4 Uhr, ich hatte mich eben ermüdet auf eine Bank gesetzt, pochte es gegen meine Sohlen, wie ein ferner Gruß aus räthselhaften Tiefen; ich hatte mich nicht getäuscht; ängstliche Bewegung wurde vernehmbar ringsumher. „Jetzt kommt’s,“ dachte man. Ich sah Leute, die sich an den Bänken festhielten in ängstlicher Einfalt. Es kam aber nicht. Ein kalter Wind wehte von Sonnenaufgang her. Das Firmament erbleichte im Ost und nahm die Farbe der Milchstraße an. Dann legte sich ein dunkelrother Rand über die noch schwarze See; allmählich schien sich derselbe von innen zu erhitzen, zu erglühen; plötzlich schien er ein Feuerbrand, in dem die zitternden Kontouren des Meeres auf- und abwallten. Die Nacht versank im Westen, mit ihr die Qual; Alles athmete auf, erstarrt von der nächtlichen Kälte.

Mein Entschluß stand fest. Der Anblick in Bussana, die durchwachte Nacht, die allgemeine Unruhe, die Besorgniß der Angehörigen zu Hause bei der Nachricht – da war keine Freude mehr zu hoffen an diesen lieblichen Gestaden. Mit dem ersten Zuge fort von dieser gleißnerischen, palmengeschmückten Küste zu meinen theueren, wenn auch schneebedeckten deutschen Tannen! Da steckt doch noch mehr Beständigkeit darinnen. Ich eilte in das Hôtel, betrachtete mit scheuen Blicken die geborstene Wand in meinem Zimmer, packte in Eile meine Sachen – und hinunter auf den Bahnhof. Aber diese Idee hatte ganz San Remo; der Bahnhof war fast zu klein, Alle zu fassen. Der Zug war noch nicht zum Stehen gebracht, und schon drängte Alles an die Koupés. Die Spuren der durchwachten Nacht lagen auf allen Gesichtern; alle Eitelkeit, alle Gefallsucht war vergessen. So unmöglich es schien, der Zug verschlang doch Alles; nur die armen Bewohner von San Remo standen noch niedergeschlagen auf dem Perron und blickten rathlos ihren entschwindenden Hoffnungen nach. La saison est morte! 10000 Fremde verlassen an diesem Tage die Riviera.

Arme Riviera! Vor 14 Tagen fuhr ich entzückt durch die blühende Landschaft und pries die glücklich, die hier geboren werden, und heute gleicht sie einem Lande, das eben ein barbarischer Feind verlassen. An allen Stationen sah man Lager im Freien, düstere Gesichter und hörte noch düsterere Nachrichten. Dieser Aschermittwoch kostet der Riviera mehr als tausend Menschenleben. An manchen Stellen, wie in Porto Maurizio, Noli, hingen geborstene Mauern über die Schienen, daß der Zug nur langsam mit größter Vorsicht vorbeifuhr, um nicht durch die Erschütterung den Einsturz herbeizurufen. Die Tunnels, die Brücken waren unsicher; überall drohte ein Unglück, und Alle athmeten auf, als der Zug in den Bahnhof zu Genua einfuhr. Ich hatte genug des Südens und strebte über die Alpen der Heimath zu. Diese massigen schneebedeckten Berge wirkten jetzt ordentlich beruhigend, nachdem sich Tage lang meine Phantasie in den Feuer- und Lavaschlünden unbekannter Tiefen ergangen. Aber lange noch wird in meiner Erinnerung nachtönen der gewaltige Schlußaccord des Karnevals der Riviera!

Lager am Strande.0 Nach Photographien und Skizzen gezeichnet von A. Lewin.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_214.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2023)