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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Abneigung aufgenommen, so erwachte vollends in den zu der Verfassung durch Waffengewalt gezwungenen Urkantonen der alte Widerstand von neuem. Doch fügten sie sich, im Angesichte drohender neuer Kriegsgräuel, dem Bürgereide bis auf das kleine Nidwalden (den nördlichen Theil des Kantons Unterwalden), welches durch die mannigfachen, den alten Sitten und Zuständen und der alten Religion zugefügten Kränkungen aufs höchste erbittert war.

Es wurde hier wieder eine Landsgemeinde gehalten und eine provisorische Regierung aufgestellt. Zwar trat nachher eine kühlere Ueberlegung und Neigung zum Nachgeben ein, aber als man in Aarau (damals Hauptort der helvetischen Republik) die Auslieferung der aufreizenden Geistlichen und Volksführer verlangte, verstärkte sich die Opposition, und die Landsgemeinde beschloß thörichter Weise geradezu Aufhebung der helvetischen Verfassung.

Nun beging aber die helvetische Regierung, wie man es wohl nennen darf, das Verbrechen, den Einmarsch französischer Truppen, während sie doch einheimische zur Verfügung hatte, in Nidwalden anzuordnen. Das Ländchen war vollständig isolirt; Obwalden hing der neuen Ordnung der Dinge an, und aus Uri und Schwyz erschienen nur kleine Hilfsscharen in Stans, welches über 1540 Mann und acht Kanonen verfügte. Gegen diese Handvoll Leute nun marschirten zu Anfang des September 18000 bis 20000 Mann Franzosen, das heißt mehr als das Doppelte der Gesammtbevölkerung des bedrohten Ländchens! Am 9. September fand der Angriff und der furchtbare Kampf statt, welchem das heldenmüthig ringende Völkchen endlich erlag, nachdem die Franzosen durch die niemals fehlenden Unterwaldner Schützen weit mehr Leute verloren hatten, als ihre Gegner Kämpfer zählten. Aber ihre Rache war schauerlich! Schauenburg hat durch diesen Tag seinen Namen auf ewig gebrandmarkt. Er erzählt in seinem Berichte selbst: „Gegen 6 Uhr Abends waren wir Meister dieser Gegend, die größtentheils verbrannt und verheert ist … mehrere Priester und leider auch eine große Anzahl Weiber sind auf dem Platze geblieben … Alles, was bewaffnet war, wurde niedergemacht.“

Im Kampfe waren nicht hundert Nidwaldner gefallen, aber nach dem theuer erkauften Siege der Eindringlinge wurden, abgesehen von zahlreichen barbarischen Mißhandlungen, Personen, darunter 8 Geistliche, 50 Kinder, viele Greise, Kranke und Frauen wehrlos gemordet, selbst in den Kirchen machten die Scheusale die frommen Beter und Beterinnen, wie auch solche, die sich hinein flüchteten, unter entsetzlichen Nebenumständen nieder. Ja die Franzosen ließen sich von Männern und Frauen mehr oder weniger Geld für die Sicherung ihres Lebens zahlen und – marterten sie dann zu Tode. Neun Kirchen und Kapellen, 316 Häuser und über 300 andere Gebäude wurden niedergebrannt. Alle vorgefundenen Geräthschaften wurden zertrümmert, Speisen ruchlos weggeworfen, wenn die Unholde satt waren; was irgendwie abzulösen war, gestohlen und die armen Leute wurden gefoltert, wenn man meinte, sie besäßen noch etwas. Namentlich wurden die Kirchen auf die empörendste Weise geschändet und geplündert. Von zahl- und namenlosen Verbrechen gegen die Sittlichkeit schweigen wir, auch abgesehen von solchen wurde mit rohester Absichtlichkeit der sittliche und religiöse Sinn des Volkes verletzt und verhöhnt. Zweiundzwanzig überwundene Kämpfer wurden, während noch ihre Wohnungen rauchten, in strömendem Regen gefesselt aus der Heimath nach Schwyz, Aarburg und Basel in entsetzliche Kerker geschleppt und nach langer Haft zu schweren Ehren- und Geldstrafen verurtheilt. Siebenundsiebzig Flüchtlinge verloren Hab und Gut. Die wegen ihrer Abneigung gegen die Franzosen und die „Helvetik“ bekannten Frauen mußten die Straßen und das in eine französische Kaserne umgewandelte Kapuzinerkloster in Stans reinigen.

Diese und ähnliche Schmachthaten dauerten fort, bis die neue Ordnung der Dinge unter französischem Oberbefehl in Nidwalden wieder hergestellt war. Die „Freiheit“ und „Gleichheit“, die als Motto damals überall hingepinselt wurden, waren in dem verwüsteten Ländchen zur Wahrheit geworden; denn das Volk war nun von allen irdischen Gütern frei und in Elend und Noth gleich. Man schätzte den finanziellen Schaden, welchen Nidwalden damals erlitt, auf anderthalb Millionen Gulden. Nach alledem aber beschloß der kriechende helvetische „Senat“: die französische Armee habe sich um das Vaterland verdient gemacht! Freilich ließen die Behörden auch eine Liebessteuer für die Unglücklichen sammeln und verabreichten ihnen selbst einen Beitrag; aber konnten sie damit die Todten auferwecken, die namenlos Gekränkten entschädigen und ihre eigene Schmach auslöschen? Vier Wochen nach dem „schrecklichen Tage“, wie er seitdem mit Recht hieß, schwur das gebeugte Volk des verheerten Nidwalden den Bürgereid.

Die französischen Truppen blieben nach diesen Ereignissen noch über drei Jahre in der Schweiz und zehrten nicht allein alles auf, was im Lande zu finden war, sondern im Jahre 1799 halfen ihnen darin die Oesterreicher und Russen, welche die alten Regierungen wieder zurückzuführen versuchten, aber nach einem blutigen Kriege mit den Franzosen auf Schweizerboden durch die entscheidende Schlacht bei Zürich am 26. September hinausgeworfen wurden. Das Schweizerland war nach diesem Kriege vollends ein Trümmer- und Leichenfeld. Das hielt aber die Franzosen nicht ab, den Schweizern noch den letzten Rest ihrer Habe zu rauben. General Massena, der Sieger von Zürich, erpreßte von dieser Stadt und Basel je 800000, von St. Gallen 400000 Franken. Die Preise der Lebensmittel wuchsen, das Brot stieg bis auf acht Batzen (etwa eine Mark) das Pfund, und die Requisitionen der Truppen waren nicht zu erschwingen. Eine Menge Familien besaß kaum das nackte Leben; von Kleidern, die diesen Namen verdienten, war keine Rede, von Betten vollends gar nicht. Und wenn Jemand es wagte, sein Eigenthum gegen die Räubereien oder weibliche Ehre gegen die Attentate der Franzosen zu schützen, der wurde einfach niedergeschossen. –

Unter diesen Umständen nahm die Sympathie für die helvetische Republik, deren Lenker immer mehr Werkzeuge Frankreichs wurden, stetig ab und Alles sehnte sich nach Herstellung der alten Zustände, freilich vorwiegend mit Verbesserung derselben; nur die Patrizier der Städte blieben unbelehrbar und träumten von vollständiger Reaktion. Als endlich Frankreich an der Spitze der Schweiz, mit Hilfe mehrerer Staatsstreiche, lauter gefügige Leute sah, zog es im Sommer 1802 seine Truppen aus dem ausgesogenen Lande zurück. Kaum war dies geschehen, so brach in den Urkantonen der Aufstand gegen die Einheitsrepublik los und griff, unterstützt von den Sympathien fast der ganzen Schweiz und von – englischen Guineen, rasch weiter um sich. Die helvetische Regierung mußte am 18. September aus Bern, ihrem damaligen Sitze, nach Lausanne fliehen; eine Tagsatzung versammelte sich in Schwyz, und überall begann die alte Schweiz wieder aufzuleben.

Das hatte der „erste Konsul“ Bonaparte erwartet, um die Schweiz, unter dem Scheine, zugleich ihr Wohlthäter zu sein, vollständig an sein Interesse zu fesseln. Er bot sich jetzt der zerrissenen Schweiz als ihr „Vermittler“ an, benahm sich aber in Wahrheit als ihr Beherrscher. Er befahl die einstweilige Wiederherstellung der helvetischen Republik, unterstützte diesen Befehl durch den abermaligen Einmarsch französischer Truppen unter General Ney und ließ durch diese die ganze Schweiz entwaffnen; denn Geld und Lebensmittel waren nicht mehr vorhanden, und etwas mußten doch die Franzosen zu rauben haben. Alle Bewaffnungsstücke, die bis in die entlegensten Hütten zu finden waren, selbst Galanteriedegen und Kinderspielwaffen, wurden weggenommen, und kein früherer Raub hat die Schweizer so sehr erbittert wie dieser. Eine Kriegssteuer von 625000 Schweizerfranken (zu 1,40 franz. Franken) wurde der Schweiz auferlegt und darauf befahl Bonaparte die Abordnung von Gesandten aller Kantone nach Paris. Hier entwarf er mit ihnen die neue Verfassung der Schweiz, welche man die Mediationsakte nannte. Sie stellte die Kantone unter einer machtlosen, jährlich zwischen sechs Städten wechselnden Centralleitung wieder her, schuf aus den ehemaligen „zugewandten Orten“ und Unterthanenlanden sechs neue Kantone und war insofern ein Meisterstück der Diplomatie, als sie der Schweiz Frieden gab und sie doch dem Willen Frankreichs unterwarf, dem sie Truppen stellen mußte, die an allen Feldzügen des Kaiserreichs von Austerlitz bis Moskau theilgenommen haben.

Im März 1803 trat diese kraftlose und friedliche Verfassung in Wirksamkeit, und die Franzosen verließen die Schweiz, welche sie fast fünf Jahre lang geschändet hatten, – für immer! Seither hat die Schweiz mancherlei Schicksalswechsel erfahren, aber keinen, und wird auch hoffentlich keinen mehr erfahren, der ihr so viel und so herbe Wunden schlägt, wie es ihre Besetzung durch die von Unkundigen als Freiheitskämpfer angestaunten Franzosen gethan hat!




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