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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Ich glaube – der Wagen,“ sagte Lucie, und auch sie fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen drang.

Hortense wollte aufstehen, aber die Füße trugen sie nicht, sie blieb sitzen, den Kopf nach der Thür gewandt. Die dunkelblaue Sammtschleife, die sie um den Hals trug, bebte in raschen Schlagen, ihre Hände stützten sich gegen die Polster der Lehne.

Nun knirschten die Räder auf dem Kies und verstummten. Und nach einem Weilchen kamen Schritte die Treppe empor.

Die junge Frau stand plötzlich auf den Füßen und eilte zur Thür hinüber, draußen war seine Stimme erklungen: „Ein kleines Malheur, beste Frau Rein weiter nichts – wo ist meine Frau?“

Hinter Lucie fielen im selben Augenblick die Vorhänge zu; sie schritt eilig durch das Eßzimmer in ihre Stube, ein erlösender schluchzender Schrei hallte ihr nach: „Waldemar! Ach, Waldemar!“ wie ihn nur Der ausrufen kann, der dem Tod noch eben ins Auge blickte und nun plötzlich in lachendes Leben schaut.

Sie stand vorerst wie betäubt in dem trauten rosengeschmückten Stübchen, dann riegelte sie die Thür hinter sich zu. So hatte sich denn erfüllt, was ihr Alle prophezeit: Hortense wendete sich von ihr. Was sollte nun werden? Sie begann alles Mögliche aus den Schubkästen zu nehmen, sie holte ihre Kleider aus dem Wandschrank und warf sie auf einen Stuhl – man würde ihr das ja nachschicken können, nur fort, so bald wie möglich!

„Fräulein, ich bitte,“ rief Frau Rein, „der Herr Doktor gebraucht alte weiche Leinewand.“

Sie stand einen Augenblick zögernd, dann kam sie mit den Schlüsseln heraus.

„Sie wissen, Frau Rein, wo sie liegt. Ich –“

„Sie sehen ja entsetzlich aus!“ rief die kleine alterirte Frau, „legen Sie sich schlafen auf ein Stündchen. Sie wissen doch, der Herr hat einen Schuß durch den Arm? Nicht gefährlich, aber schmerzhaft, ein ‚unglücklicher Zufall auf der Jagd‘! Na, es passirt so, und man kann Gott danken, wenn das ‚Hühnerschrot‘ keinen größeren Schaden thut.“ Sie war bei diesen Worten schon am Ende des Ganges und verschwand in einer Thür.

Lucie überlegte weiter, während sie sich das Nöthigste für die Reise zurecht legte, ihr Haar flocht und das Gesicht mit kaltem Wasser wusch. Ihr war so unheimlich nüchtern, so kühl zu Muthe, als sei da innen in ihrer Brust Alles todt und still. Zu Georg? Wenigstens vorläufig. Wenn er sie nicht aufnahm, dann – sie hatte eine Schulfreundin im Dorfe, die seit Kurzem verheirathet war, ein Unterkommen von ein paar Tagen würde man ihr ja gewähren.

Frau Rein brachte die Schlüssel wieder. Lucie legte sie in den Korb, die Wirthschaftsbücher rechnete sie nach, und die kleine Geldwanne nahm sie aus dem Mittelfach, sie setzte sich dann an den Tisch, um ein paar Worte an Hortense zu schreiben. Der Zug, den sie benutzen konnte, fuhr erst gegen Abend, sie wollte bis zur Haltestelle gehen; diese mochte kaum eine halbe Stunde entfernt sein. Abschied zu nehmen würde ihr unmöglich sein. Auch war es Nachmittag geworden, Niemand hatte bisher nach ihr gefragt –.

Sie räumte die Sachen alle wieder fort, nur der Regenmantel, die kleine Reisetasche und der Schirm lagen bereit. Dann saß sie müßig am Fenster und blickte mit brennenden Augen auf den plätschernden krystallklaren Wasserstrahl, der aus der umgestürzten Amphore des ziegenhujigen Fauns sprudelte, welcher mit verschmitztem Gesicht inmitten der Nymphenschar stand.

Allmählich wurde es auch wohl Zeit zum Gehen.

Sie trat vor den Spiegel und setzte das Hütchen auf die blonden Flechten; da öffnete sich die Thür hinter ihr, und in dem Glas sah sie Hortense’s Gesicht, blaß, mit großen erschreckten Augen.

„Was willst Du thun, Luz?“ und ihre Blicke flogen über die kleinen Reisevorbereitungen.

Das Mädchen hatte sich gewandt. „Gehen will ich, wie ich Dir versprach.“

„Lucie!“ rief die junge Frau schmerzlich, „wiegt denn ein Wort, in der Verzweiflung gesprochen, so schwer, daß Du nicht verzeihen kannst?“ Und sie schlang, in Thränen ausbrechend, die Arme um den Hals des stillen Mädchens. „Bleib’ bei uns, wir haben Dich Beide so herzlich lieb! Ich war wahnsinuig, als ich glaubte, er habe sich von mir gewandt, ich weiß es ja so genau seit ein paar Stunden, seit dieser Nacht schon, daß ich nicht einen Augenblick aus seinem Herzen verdrängt bin! Verzeihe mir und laß mich gut machen, was ich Dir gethan –“

„Nein, Hortense, es ist besser so, und am besten – wir machen rasch ein Ende.“

„Ich will nicht, Luz! Stoße mich nicht zurück; ich habe Dir so unendlich viel abzubitten. Sei nicht so furchtbar hart!“

Sie drängte das Mädchen zu dem kleinen Sofa hinüber. „Ich will Dich für Alles um Verzeihung bitten in dieser Stunde,“ fuhr sie fort, „nichts will ich beschönigen! Ich habe Dich gelehrt, unzufrieden sein mit dem bescheidenen Lose, das Du erwählt; ich habe Dich umhergezerrt in der Welt und Dich gehindert, Deine Pflicht zu thun bei Deiner sterbenden Schwester. – Vergieb, Lucie, ich wußte bis jetzt nicht, was es bedeutet: Liebe! Friede!“ Sie preßte die kleine kalte Hand demüthig an ihren Mund und blickte sie mit überströmenden Augen an. „Vergieb mir und beweise, daß Du mir verziehen, indem Du bei uns bleibst!“

„Ich habe Dir nichts zu vergeben, Hortense; beschäme mich nicht, indem Du mich als ein völlig willensschwaches Geschöpf hinstellst! Ich war kein Kind mehr; was ich gethan und gefehlt – ich allein trage die Schuld – Und nimm auch Dank von mir,“ fuhr sie fort, als Hortense sprechen wollte; „Du hast mich viel Schönes und Herrliches kennen gelehrt, die Erinnerung daran und an Dich wird mich immer sehr beglücken. Laß mich aufstehen, Hortense, ich will! Ich muß!“

„Der Herr läßt bitten, die Damen möchten einmal hinüber kommen,“ bestellte der Diener, vor der Thür sprechend.

Lucie nahm die Handschuhe. Sie sah an Hortense vorüber. „Komm,“ sagte sie, „ich will auch Deinem Mann noch danken.“

Er lag auf dem Sofa in seinem Zimmer, den Arm verbunden. Ein Tischchen mit Wasserkaraffe, Eisstückchen und allem Möglichen, was man bei solcher Gelegenheit braucht, neben sich. Still schritt Hortense zu ihm hinüber, und vor dem Lager niederknieend, sagte sie weinend: „Sie will fort, Waldemar, sie läßt sich nicht versöhnen.“

Er hatte dem Mädchen ernst die Hand entgegengestreckt, die ein Blatt Papier hielt. „Lesen Sie, Fräulein Walter, eben kam das Telegramm.“

Lucie erschrak. „Mein Gott, ich hatte gestern nicht den Muth, davon zu sprechen. Haben Sie Nachricht? Wie geht es dem Baron?“

Hortense sah fragend von Einem zum Andern.

„Dein Großpapa ist unpaß; es ist nicht gefährlich, er hat eine kleine Lähmung,“ erklärte er ihr und strich leise und zärtlich über ihre blassen Wangen. „Und nun will er Dir Lucie wegkapern. Mademoiselle steht händeringend, sie möge kommen; es sei mit dem alten Herrn, dem es sonst nicht schlechter geht, kaum zum Fertigwerden.“ Und zu dem Mädchen gewendet fragte er: „Wollen Sie es thun, Lucie?“

Sie stand und sah mit den müden Augen durch das Fenster. Es war ja am Ende so grenzenlos gleichgültig, wo sie ihre Tage verbrachte. Einen flüchtigen Moment durchzuckte sie der Gedanke an Adler; aber was hatte sie mit ihm noch zu thun? „O gewiß, gern, wenn ich nützen kann,“ sprach sie tonlos.

„Luz, bleibe hier!“ schluchzte Hortense. „Luz, ich bitte Dich –“

Sie blickte auf die junge Frau, die noch immer neben ihrem Mann knieete, von seinem gesunden Arm fest umschlungen. Was sollte sie hier? Leise schüttelte sie den Kopf. „Laß mich gehen, es ist –“

„Wenn Sie lieber hier sind, Lucie –“ begann er herzlich. „Glauben Sie, Sie sind uns stets eine liebe Hausgenossin; Großpapa findet wohl eine andere Pflegerin.“

„Nein, nein, ich danke, ich gehe nach Hohenberg.“

„Eigentlich müßte ich zürnen mit Ihnen,“ sprach er freundlich ernst, „wie haben Sie die arme kleine Frau in Angst versetzt! Es soll Ihnen aber verziehen sein, Lucie; denn ohne diese Angst wüßte ich vielleicht noch zur Stunde nicht, wie sehr ich geliebt bin.“

Sie nahm die dargebotene Hand. „Ich konnte nicht anders,“ sagte sie, und eine tiefe Röthe stieg in ihr Gesicht. „Leben Sie wohl, Herr Weber, werden Sie bald gesund! Hortense, ich will nun gehen. Lebt wohl!“

„Gehen?“ rief er, „das fehlte noch; bitte, klingele, Hortense.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_231.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)