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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Hafen hielt, ehe es hinausgetrieben ward in die Wellen und den Sturm des Lebens! Aber dieses stille flache Wasser drückte sie noch schrecklicher als der Sturm, der sie draußen erwartete. – Georg? Sie zuckte die Schultern; Georg war froh, daß er dieser Last ledig; was ging ihn die Schwester seiner verstorbenen Frau an? Er hatte nicht das mindeste Interesse für sie, das zeigte er jetzt deutlich, übergenug! Er hatte nie wieder nach ihr gefragt.

Sie erhob sich und suchte am Nähtisch nach ihrer Häkelarbeit und strich ein paarmal mit dem Schildpattkämmchen durch das Haar, sie stand dabei vor dem Spiegel, blickte aber nicht hinein. Im Begriff hinunter zu gehen, dachte sie an Hortense’s Brief. Sie zog ihn mit raschem Griff aus der Tasche, trat zum Fenster und begann zu lesen:

 „Meine liebe kleine Luz!
Du wirst immer geiziger mit Deinen Briefen, und ein liebes herzliches Wort hast Du gar nicht mehr für mich. Ich ängstige mich, Du könntest krank sein, oder Du seiest nicht mehr gerne dort, jetzt, wo es Großpapa wieder besser geht. Aber Du weißt doch, wie willkommen Du uns jeder Zeit bist, und dann – man soll zwar nicht aus der Schule schwatzen – hatten wir noch einen anderen Plan für Dich. Waldemar meint nämlich, Du würdest seiner Mutter außerordentlich gefallen und könntest bei ihr angenehme Tage verleben als liebes verhätscheltes Pflegetöchterchen. Mich hat dieser Gedanke sehr beglückt. Du weißt, Luz, ich leide furchtbar unter der Idee, Dich nicht glücklich zu wissen.

Ich glaube, Luz, Mama würde auch über das Grab hinaus für Dich sorgen; wen die Webers einmal lieb haben, den lassen sie nicht wieder, es sind so treue prächtige Menschen. Habe ich Dir schon geschrieben, daß Waldemar Papa nach Ungarn gebracht hat auf sein Gut, das meiner Schwiegermutter gehört? Er soll eine Art Inspektor dort vorstellen.

Möchte er sich doch einleben! Ich kann nicht verhehlen: mir macht es Sorge, aber Waldemar sagt, Papa wisse, daß dies der letzte Versuch ist. Gott gebe das Beste!

Noch eine Neuigkeit, Luz. Kannst Du rathen, worin das Geburtstagsgeschenk meines Mannes besteht? Du erräthst es nicht – er hat Dillendorf zurückgekauft, er überraschte mich mit der Urkunde, sie steckte in einem Rosenstrauß! Du weißt, Luz, ich weine selten, aber da habe ich geschluchzt an seinem Halse vor lauter Seligkeit. Ach, Lucie, laß es mich einmal aussprechen, auf das Papier schreiben, daß ich den besten Mann auf der Welt gefunden habe. Möchte Dir ein gleiches Glück beschert werden, darum bitte ich Gott jeden Tag.

Du siehst die Flecke auf dem Briefbogen befremdet an? Luz, es sind Freudenthränen – vergieb mir, daß ich mich so gehen lasse. Ich habe eine Bitte an Dich. In meinem Schlafzimmer, im Wandschrank steht im untersten Fach ein kleiner Koffer aus Juchtenleder, es sind die ersten Sächelchen darin, die ich getragen, Mama hat sie selbst für mich gemacht. Ich möchte sie haben – Du ahnst es, Lucie? Ach, Du glaubst nicht, wie glücklich wir sind! Wenn Großpapa es doch noch erleben möchte! Leb’ wohl! Ich hoffe, zu Weihnacht sehen wir uns, Waldemar versprach mir die Reise. Wie freue ich mich!

Ich muß schließen; wir haben Gäste heute Abend, und ich habe noch allerlei zu thun. Waldemar grüßt, sowie
 Deine Hortense.“

Lucie zerdrückte das Papier in der Hand, sie legte den Kopf an die Scheiben und blickte hinaus. Der allerletzte Tagesschein lag über dem einsamen Garten; leise taumelten die Schneeflocken hernieder; eine Schar Dohlen zog mit heiserem Geschrei ihren Nestern in dem alten Wartthurm zu. Eine Eiseskälte rann durch des Mädchens Glieder; so muß einer Bettlerin zu Muthe sein, die von windiger kalter Straße aus in ein behagliches warmes Zimmer lugt. Ach nein, die hatte doch vielleicht noch eine Seele, die mit ihr hungerte und darbte; sie war allein, ganz allein!

Mit diesen bitteren Gedanken ging sie hinunter. In Mademoiselle’s Zimmer brannte die Lampe noch nicht; vom Sofa her scholl die bekannte Stimme Tante Dettchen’s.

„Ja, meine Schwägerin glaubt, daß sie einig sind; er ist so verschlossen und geht vollständig in seinem Berufe auf. Man erfährt nichts Sicheres; sie meinte aber, heute Abend würde wohl – ich –“

Sie verstummte, es war ihr, als habe sie einen leisen Schrei gehört. „Was war das?“ fragte sie.

„Ach Sie sind es, Lucie?“ klang jetzt die Stimme der Französin. „In der That, ich hatte es schon aufgegeben, Sie zu sehen. Seien Sie vorsichtig; es ist ja ganz finster hier, Fräulein Adler wollte noch kein Licht.“

„Guten Abend,“ sprach dann eine weiche Frauenstimme, und Lucie, die zum Tische hinüber getreten, fühlte ihre Hand leicht erfaßt. „Wie geht es Dir – Ihnen, Lucie?“

„Ich danke, gut,“ sagte sie klanglos. Sie saß dann neben Tante Dettchen und blickte durch das Fenster auf die leicht beschneiten Dächer der Stallgebäude, die sich blendend von dem abenddunklen Himmel abhoben, und auf den hellen Stern, der durch eine zerrissene Wolke funkelte. Sie hörte wohl die Beiden weiter sprechen, das leise Klirren der Kaffeetassen und das Knistern des Feuers im Kachelofen, aber sie achtete nicht darauf.

„Aber, was wollten Sie doch erzählen, Liebste?“ fragte die lebhafte Wirthin mit der ihr eigenen Ungezwungenheit.

„Ich weiß es nicht mehr,“ stotterte Dettchen.

Die Dienerin war mit der Lampe eingetreten, und die kleine gutmüthige Dame sah in diesem Moment ein paar so glanzlose traurige Augen, daß sie abbrach.

„Lucie,“ sprach sie nach einer Weile und ergriff des Mädchens Hand, „Lucie, sind Sie – bist Du krank?“

„Nein,“ antwortete sie und richtete sich in die Höhe, während ein leises Roth ihr schmales Gesicht überflog. Und sie griff nach ihrer Arbeitstasche und begann zu häkeln mit zitternden Fingern.

Das Gespräch schleppte sich mühsam weiter, Mademoiselle fragte und Tante Dettchen antwortete. Sie redeten über die vielen Krankheiten in der Stadt und von dem Ball, der heute Abend stattfinden werde. Es sei das fünfundzwanzigjährige Stiftungsfest der Reunion, erzählte Dettchen, und werde ganz besonders glänzend gefeiert in diesem Jahre. Selma ziehe ein grünes Kleid an; darauf blinke es wie Tropfen, und Wasserrosen und Schilfblätter bildeten die Garnirung, berichtete sie auf eine Frage nach der Toilette.

,O, wie poetisch!“ hauchte Mademoiselle; „Hortense trug einmal einen ähnlichen Anzug, natürlich in Seide und Illusionstüll, magnifique! Sie war bezaubernd an diesem Abend. Liebste, tanzt er denn?“

„Wer? Ach so – nein – ich glaube, er macht sich nichts daraus; aber er lebt doch nun einmal hier und kann sich nicht zurückziehen – Sie verstehen wohl?“ Tante Dettchen stockten die Worte im Munde, sie konnte nicht vor dem Mädchen seinen Namen aussprechen. Sie sah in ihrer Verlegenheit nach der silbernen Uhr, die sie an einer Haarkette mit goldenem Schieberchen trug, und sagte: „Schon dreiviertel auf Sechs! Ich möchte wohl, ich müßte –“

„O Himmel!“ fiel Mademoiselle ein, „Sie sind ja eben erst gekommen, und mein Marasquino-Kreme – Lucie, bitte, läuten Sie einmal.“

Das Mädchen stand auf.

„Ich danke! Ich danke!“ wehrte Fräulein Adler, „ich muß wirklich gehen; ich will doch Selma noch helfen, denn Klara hat mit sich genug zu thun; ich glaube, sie warten schon.“

Sie ließ sich nicht halten. Lucie legte ihr den wattirten Mantel um die Schultern und reichte ihr die Kapuze.

„Es war mir eine große Ehre,“ sagte Tante Dettchen unbehilflich und schüchtern zu Mademoiselle, welche sie mit dem Anstand einer Fürstin zur Stubenthür begleitete. „Vielen Dank, herzlichen Dank für Ihre Freundlichkeit! Leb’ wohl, Lucie. Einen Regenschirm hatte ich noch – danke vielmal!“

Lucie stand am Fenster und sah sie durch den Schnee über den Hof trippeln, von Peter geleitet.

„Um Gotteswillen, Lucie, können Sie langweilig sein!“ schmollte Mademoiselle. Aber das Mädchen erwiederte nichts; sie sah starr hinüber, wo durch die Pforte, die Tante Dettchen eben passirte, eine große Männergestalt trat, von Peter’s Laterne mit zuckendem Schein gestreift, und nun schloß sich die Pforte hinter ihm, und sie kamen auf das Haus zu. Lucie erkannte, daß noch ein kleines Wesen neben dem Fremden einherging. Dann trat sie bestürzt zurück und eilte aus dem Zimmer.

„Was giebt’s?“ rief Mademoiselle, aber Lucie hatte schon die Thür aufgerissen; „Georg?“ fragte sie athemlos, „Du?“

Es bebte freudig in ihrer Stimme; er kam zu ihr – er hatte sie nicht ganz vergessen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_251.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)