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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

und sicher durch das Gewühl führte. Der rothe Strauß tauchte wie eine feurige Rakete bald hier, bald dort auf.

„Wo hast Du das Bouquett bestellt, Alfred?“

Aber der Sohn antwortete nicht. Er sprach mit ein paar Herren, das Wort „Skat“ schlug an die Ohren der Mutter, und da verschwanden sie auch schon im Nebenzimmer. Er saß bald darauf am Spieltisch mit dem Amtsrichter Böhm, dem Bürgermeister und dem Kreisphysikus. Noch ehe sie die Karten aufnahmen, waren sie in einen Disput über das Krankenhaus gerathen.

„Die Herren Doktoren würden es vermuthlich am liebsten gesehen haben, wir hätten ihnen den besten Bauplatz in der neuen Villenstraße angewiesen,“ meinte das Oberhaupt der Stadt und ordnete die Blätter in der Hand.

„Den Platz, den Ihr uns geben wollt, nehmen wir einfach nicht,“ sagte der Kreisphysikus; „darauf könnt Ihr Torf stechen lassen und ihn dann im Rathhause verheizen. Adler, Sie wissen, wie wir gestern da waren, stand das klare Wasser über dem Grase, das dort so üppig wächst wie nirgend sonst.“

„Natürlich,“ sagte Doktor Adler zerstreut, und sein Blick kam wie aus weiter Ferne zurück. Er dachte eben an ein paar braune Mädchenaugen, die er heute früh gesehen, als er das gleiche Thema behandelte, traurig und zornig zugleich. Er war wirklich unartig gewesen – aber bah! was konnte auch das Gegentheil noch nützen? Natürlich!“ wiederholte er, „die Regierung wird auch wohl noch ein Wörtchen mitreden.“

Der Bürgermeister warf ihm einen ärgerlichen Blick zu; dann wurde gespielt und dabei das Krankenhaus vergessen. Ein allgemeiner Aufbruch störte die Partie nach einer Stunde; aus dem Ballsaal drängten die Tänzer herein; Kellner schleppten dafür riesenhafte Tafeln in den Saal, man rüstete zum Souper.

Adler wurde von einer niedlichen jungen Frau in weißer Seide angeredet, offenbar ihr Brautkleid und funkelnagelneu.

„Haben Sie meinen Mann nicht gesehen, Herr Doktor? Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie ihn mir herschicken könnten. Ich fürchte,“ raunte sie ihm zu hinter ihrem silberblitzenden Fächer hervor, „er sitzt unten im Gastzimmer beim Bier.“

Seine ernsten Züge wurden freundlich beim Anblicke dieses frischen Gesichtchens mit den besorgten Augen.

„Ich werde ihn suchen und ihn todt oder lebendig hierher schleppen,“ sagte er und wand sich durch die dicht gedrängte Menge.

Dann fühlte er sich am Arm gehalten. „Alfred,“ wisperte die Mutter, „hast Du Selma engagirt?“

Er besann sich auf seine Ritterpflicht dem Besuch seiner Mutter gegenüber und schob sich in einen Kreis duftiger Toiletten, aus dem Fräulein Selma um Kopfeslänge hervorragte.

„Darf ich die Ehre haben zu Tisch?“

Fräulein Selma ward roth, führte den großen Strauß an die Lippen und flüsterte. „Ach, verzeihen Sie, aber ich wußte nicht – ich dachte nicht – ich habe Herrn Lippert bereits zugesagt.“

Er verbeugte sich stumm, drängte sich völlig durch die Menge und erreichte den Korridor, tief aufathmend in der kühlen Luft. Die Gastzimmer lagen zu ebener Erde; Lachen und Sprechen scholl ihm entgegen, als er die Thür öffnete; eine große Zahl fahnenflüchtiger Herren saß hier unten und stärkte sich mit echtem Kulmbacher. Adler trat zum Amtsrichter Böhm und legte ihm die Hand auf die Schulter, „die Gattin fordert Sie,“ sagte er scherzend.

Der junge Mann sprang auf. „Das weiß der Himmel,“ rief er, „sie hat’s doch gleich gemerkt. Was in aller Welt mag sie denn wollen? Sie saß doch eben noch im eifrigen Gespräche mit ihrer Mutter und Tante!“ Er trank hastig sein Seidel leer und ging hinaus.

Adler wollte ihm folgen, da fiel sein Blick auf einen Mann, der, weitab von dem großen dicht besetzten Mitteltisch, in einem dämmerigen Eckchen saß; er hatte eine Zeitung in der Hand; das halb geleerte Glas stand vor ihm, und dazu rauchte er eine kurze Pfeise.

„Remmert?“ fragte er, als er dicht vor ihm stand, „wahrhaftig, Sie sind’s! Wie in aller Welt –?“

Der Oberförster war aufgesprungen, und die beiden Herren schüttelten sich die Hände. Der Doktor zog einen Stuhl heran, und nun saßen sie sich gegenüber. „Das nenne ich eine Ueberraschung!“ sagte er.

„Ich wäre morgen früh zu Ihnen gekommen, Adler – wegen der Kleinen, der Annemarie.“

„Sie haben das Kind mit?“

„Ja!“

„Hier?“

„Nein, es ist bei Lucie. Es miesert so weiter; ich weiß nicht, was es mit dem Würmchen sein mag –“

„Ich wäre ja gern zu Ihnen gekommen, Remmert. Sind die Andern wohl?“

„Ja, ich danke. Ich wäre doch hergereist, wissen Sie – ich habe mit meiner Schwägerin zu reden.“

„So, so!“

Das Gastzimmer war jetzt fast leer; nur ein paar reisende Kaufleute saßen in dem entgegengesetzten Winkel des großen gewölbten Gemaches im leisen eifrigen Gespräch; am Büffett lehnte verschlafen ein halbwüchsiger Kellnerjunge, eines von den unglücklichen kleinen Geschöpfen, denen um neun Uhr vor Müdigkeit die Augen zufallen, weil sie eben noch Kinder sind.

„Wollen Sie nicht auch hinaufgehen?“ fragte der Oberförster; „ich meiue, es wird jetzt gespeist. Ich hatte keine Ahnung, daß diese Nacht hier solch ein Tumult sein würde; ich wäre sonst in den ‚Anker‘ gegangen.“

„Wenn Sie erlauben, bleibe ich bei Ihnen, Remmert; man sieht sich so selten, und ich habe da oben keine Verpflichtung zu erfüllen. Meine Dame gab mir einen Korb. Erzählen Sie, wie geht es draußen in Wald und Heide?“

„Die Frau fehlt, Doktor, die Frau fehlt!“ Der große Mann mit dem gramvollen Zug in dem Gesichte nahm den Krug und trank hastig. „Es hapert an allen Ecken und Enden, und erst die Kinder! Sie sind so hilflos wie ein Nest voll junger Vögel, denen die Alten weggeflogen sind, es geht nicht länger so!“ Er hatte das Taschentuch schon wieder in der Hand, und in den Augen blinkte es feucht. „Die Leute werden wohl darüber schreien,“ fuhr er fort, „wenn sie hören, daß ich heirathen will; die Frau ist noch kein Jahr todt. Aber wenn Sie wüßten, Adler, wie das bei mir im Hause ist – zum Davonlaufen kalt und unheimlich! Wie da Alles nur gethan wird, weil es geschehen muß, und immer nur das Nothwendigste; wie bei Tische kein freundliches Wort fällt und man sein Bischen Suppe mit heimlichen Thränen hinunter würgt, sieht man die gedrückten Mienen der Kinder. Mit einem Worte, es ist kein Leben mehr, Adler –“

„Sie haben wohl Recht, Remmert,“ sagte Doktor Adler mitleidig. „Von Herzen wünsche ich eine gute Wahl, schon der Kinder wegen.“

„Ich dachte auch nicht an eine Fremde,“ erwiederte der Oberförster, „ich habe nicht Zeit herumzuscharwenzeln.“ Dann flog es wie eine leise Verlegenheit über sein Gesicht, und den Bart mit dem Taschentuch streichend, setzte er hinzu. „Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Doktor? Ich dachte an – “

„Lucie?“ sagte Doktor Adler. Es klang wie athemlos. „Sie wollte bleiben –“ mnrmelte er.

Der Oberförster nickte.

„Ja – das arme Ding! Ich war ungerecht gegen sie. Aber, wie schon gesagt, im Schmerz wägt man seine Worte nicht. Ich war so verbittert und unglücklich, und dann – die Welt ist zu schlecht, Adler; Gott weiß, welchem Gerede ich sie ausgesetzt hätte, und deßhalb –“

Er bekam keine Antwort. Doktor Adler sah mit fest zusammen gepreßten Lippen auf den Deckel seines Stammseidels, das der kleine Kellner vor ihm auf den Tisch gestellt hatte. Oben wurde eben ein Hoch ausgebracht; Menschenstimmen und Musik fanden ihren Weg bis hinunter. „Und sie?“ fragte er endlich kaum hörbar.

„Es ist nicht leicht, Stiefmutter zu werden, Doktor.“

„Und sie?“ fragte er noch einmal mit anderer Betonung.

„Es sind doch die Kinder ihrer Schwester, Adler.“

„Sie ist noch so jung!“ sagte er dumpf.

„Aber sie hat ein Herz für die Kinder, Doktor, und das ist die Hauptsache.“

„Und sie weiß es?“

„Ich bin ja deßhalb bei ihr gewesen.“

Sie sprachen nicht weiter. Die beiden Herren, die dort gesessen, waren gegangen, der kleine Kellner schlief jetzt wirklich am Büffett, das leise Ticken des Regulators scholl deutlich durch die Stille. Dann schlug es zwölf Uhr.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_270.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)