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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Schlingel da, der Sie so seltsam bei Schwab eingeführt hat, ist mein Sohn Theobald.“

Der Schulrath war freudigst überrascht, sich plötzlich im schwäbischen Dichterwald zu sehen, und konnte nicht genug sein Glück rühmen, die jetzt persönlich kennen zu lernen, mit deren Gedichten er schon so oft seine Schüler in der Litteraturstunde bekannt gemacht hatte; der vielbelesene Mann unterhielt sich namentlich mit Schwab sehr gut; doch plötzlich schien ihn immer wieder eine quälende Erinnerung zu erfassen, und dann drückte er Schwab die Hand und sagte:

„Aber bester Herr Oberkonsistorialrath, Sie sind mir doch nicht böse?“

„Nein, gewiß nicht! warum sollte ich?“ versicherte Schwab und verbreiterte seinen Mund mit den großen weißen Zähnen zum gutmüthigsten Lächeln; insgeheim schlug ihm wohl auch das Gewissen, daß er den ehrlichen Schulrath einen Gauner genannt hatte.

„Der Wagen ist angefahren!“ wurde gemeldet, und jetzt kam es zum Scheiden. Uhland, ein Mann strenger Pflicht und der Uhr (darum von dem Reisenden nicht mit Unrecht für einen Uhrmacher gehalten), hatte sich trotz aller Bitten nicht bewegen lassen, länger als die vorher bestimmte Stunde zu bleiben, und Schwab und Mayer fuhren mit ihm. Innig umschlangen sich die Freunde und küßten sich; selbst dem trockenen Uhland schien der Abschied diesmal recht schwer zu fallen. Traurig schauten Kerner und sein Rikele dem Wagen nach, bis er den Berg unten um die Ecke verschwand. Kilzer blieb da, doch war der Abend still und Kerner traurig; er fühlte sich vereinsamt. Ahnte er, daß die vier Freunde sich diesmal zum letzten Male so fröhlich in Weinsberg zusammen gefunden hatten? Der Erste, der dem Freundeskreise, den nur der Tod trennen konnte, entrissen wurde, war der Jüngste und Kräftigste unter ihnen, Gustav Schwab; dann starben Kerner und sein Rikele, bald darauf Uhland; der Letzte von ihnen war Karl Mayer. Alle, welche an jenem schönen Sommertage im Kerner-Hause froh vereint beisammen saßen, sind längst todt; nur der Kobold des Hauses, der einst den friedlich schlummernden Schwab so schnöd des Somnambulismus zieh, lebt noch, ist aber allen Uebermuths entkleidet jetzt auch ein alter Mann geworden und denkt, während er dies niederschreibt, wehmüthig zurück an die lichten Tage seiner Jugend.




Herzenskrisen.

Roman von W. Heimburg.
(Schluß.)

Ein eisig kalter Wind hatte sich erhoben; die zahllosen Pfützen der schlecht gepflasterten Straßen waren leicht überfroren, die Wolken gewichen und ein klarer Sternenhimmel schimmerte hernieder.

Mademoiselle trat Adler sichtlich erregt im Hausflur entgegen. „Mein lieber Doktor,“ rief sie, „welche Geschichten! Verzeihen Sie nur, daß ich Sie stören mußte, grad’ heute stören –“

Sein blasses Gesicht blickte sie fragend an.

„Was denken Sie, was geschehen ist?“ lamentirte sie. „Um Mitternacht hören wir – die Minna vielmehr – ein jammervolles Kinderweinen, und wie sie hinzu läuft, findet sie ein todkrankes Kind – ich versichere Sie, solch dicken rothen Kopf!“ – Mademoiselle wies mit den Händen in weitem Bogen um ihr eigenes Haupt – „und das Allerschlimmste: Lucie ohnmächtig am Ofen! Sie ist wieder bei sich; aber sie sitzt wie eine Irrsinnige neben dem Bette des Kindes und rührt sich nicht.“

Er wandte sich und stieg rasch die Treppe empor; er nahm immer gleich zwei Stufen auf einmal. In Luciens Zimmer brannte eine verschleierte Lampe, und an dem Bette, dessen Vorhänge weit zurückgenommen waren, saß das Mädchen regungslos wie ein Wachsbild, und so gelblich bleich schien auch das schmale Gesicht in der dämmernden Beleuchtung.

Sie stand auf, als er über die Schwelle kam, und wies stumm auf das Bett; dann trat sie an das Kopfende und faltete die Hände über einem geschnitzten Engelskopf, der als Verzierung diente.

Er sah die Kleine gar nicht an, nur sie. Aber sie blickte nicht auf. So standen sie eine ganze Weile. Dann bog er sich herab zu dem fiebernden Kinde. „Worüber klagt sie zumeist?“ fragte er.

„Ueber den Hals,“ war die leise Antwort.

Sie brachte ein Licht auf sein Verlangen. Er erschrak, als er das Mädchen in der hellen Beleuchtung erblickte: so verstört, so unheimlich erschien ihm der Ausdruck des sonst so lieblichen Gesichtes.

„Es ist eine einfache Halsentzündung mit Fieber,“ sagte er und löschte das Licht. „Ich werde in der Apotheke etwas verschreiben.“

Sie stand wieder am Kopfende des Bettes, an dem vorigen Platz. „Ist sie sehr krank?“ fragte sie.

„Die Kleine nicht, aber Sie scheinen es zu sein.“

„Nein!“ sagte sie abweisend.

„Ja!“ sprach er laut und fest.

Sie erwiederte nichts. Sie hatte den Kopf gesenkt; ihre Hände klammerten sich fester an die Bettverzierung und über ihre Wangen rannen langsam ein paar große stille Thränen.

„Ich habe Remmert gesprochen,“ klang es leise in ihr Ohr.

Sie nickte zustimmend und senkte aufs Neue den Kopf.

„Sie haben Schweres übernommen, Lucie, zu Schweres fast für Ihre Jugend.“ Er sprach so langsam, als ob er seiner Zunge nicht mächtig wäre.

Sie rührte sich immer noch nicht, und ihm dünkte, als ob sie selbst es nicht mehr sei: so groß war die Qual, die sich auf ihrem Antlitz spiegelte.

„Gott gebe Ihnen alles Glück!“ murmelte er; dann wandte er sich schnell. Er fühlte, seine Kraft war plötzlich zu Ende. Im nächsten Augenblick schon war er an der Thür.

Da hallte ein Schrei durch das Zimmer, der Ausbruch einer wahnsinnig geängstigten Seele; das Mädchen war in die Kniee gebrochen und ihre Hände hatten sich in das Haar gewühlt. „Muß ich denn? Muß ich denn – ich kann doch nicht!“

Im nächsten Augenblick war er bei ihr und hielt sie in seinen Armen.

„Gehen Sie!“ wehrte sie ihm; „gehen Sie doch!“

„Ich soll gehen? Jetzt gehen? – Sprich, warum ist es Dir nicht möglich? Sprich, Lucie – es ist ja das Wenigste, was Du thun kannst, mir zu sagen, daß Du mich doch nicht ganz vergessen hast –“

Sie antwortete nicht; sie sah ihn an mit ausdruckslosen Augen.

„Für all das Leid nicht ein gutes Wort, Lucie?“

„Wozu mich so grenzenlos quälen!“ rief sie außer sich, als käme sie erst jetzt zur Besinnung. „Ich sehe mein Unrecht ja ein! Ich bitte Sie ja um Verzeihung für Alles, und wenn es Sie beruhigt, so wissen Sie, daß ich das elendeste und herzensärmste Geschöpf bin auf der weiten Welt. Und nun gehen Sie und sagen es Ihrer Braut, und – werden Sie glücklich!“

Sie hatte heftig gestikulirt; nun fühlte sie ihre Hände gehalten.

„Sich mich an, Lucie,“ sagte er mit fester Stimme, „wie kommst Du dazu, mir von einer Braut zu sprechen? Denkst Du, daß es so kinderleicht ist, Dich zu vergessen? nach Dir – eine Andere lieb zu haben? – Nein, Lucie, ich gehöre in diesem Augenblick noch ebenso Dir wie damals, als Du mir den ersten Kuß gegeben; weißt Du, im Walde, unter den Buchen? O, Du hast viel gut zu machen, Lucie. Willst Du das?“

Sie sagte kein Wort; sie legte, in Thränen ausbrechend, die Arme um seinen Hals, und immer heftiger ward ihr Schluchzen. Es war, als ob alles Leid und alle Angst von ihrer Seele mit den Thränen fließen sollte.

Er ließ sie stumm gewähren.

„Auch ich trage meinen Theil der Schuld,“ flüsterte er endlich und hob ihren Kopf empor und küßte die Tropfen von den Wimpern und das wirre blonde Haar, „auch ich, Lucie!“ – 0000000000

Als er wenige Minuten später die Treppe hinunter kam, fand er Mademoiselle mit blassem Gesicht in der geöffneten Thür ihres Zimmers angstvoll seiner wartend.

„Ist es so schlimm?“ fragte sie. „Sie blieben ja eine Ewigkeit!“

„Die Kleine schläft,“ erwiederte er. „Es ist eine leichte Halsentzündung. Sie können ruhig hinaufgehen, Mademoiselle, ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_283.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)