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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Kanzleidirektor, daß der Verbrecher ohne Zweifel zum Tode durch den Strang verurtheilt werde.

„So ist der unglückliche junge Mann wirklich unrettbar verloren?“ rief Benigna erschüttert aus.

„Der Unglückliche – geruhen gnädiges Fräulein zu sagen?“ fragte Fernhaber verdutzt. „Der ruchlose Verbrecher, der es gewagt, an unserer über Alles geliebten Fürstin ein so unerhörtes crimen zu verüben? Verloren ist er allerdings, sofern die Justificirung eines so gefährlichen Subjekts ein Verlust für die Menschheit sein sollte. Der Galgen ist ihm in der Reichsstadt so sicher, wie er ihm bei uns geblüht hätte.“

„Er kann und darf aber nicht hingerichtet werden!“ rief Benigna voll Bestürzung entgegen.

Fernhaber schaute mit großen Augen auf das Fräulein, ob er nicht recht gehört hätte. „Kann nicht – darf nicht, meine Gnädige?“

„Ach, wenn Sie wüßten, bester Fernhaber,“ fuhr Benigna fort, „wie das weiche Herz unserer Fürstin unter der Vorstellung leidet, daß der unselige Mensch wegen des an ihr begangenen Raubes zum Tode geführt werden soll! Der peinliche Gedanke an seine Hinrichtung hat sichtlich ihren Zustand verschlimmert. Ich bin fest überzeugt, daß die Kunde von seiner Begnadigung die allerbeste Arznei für sie wäre. Ich weiß ja, mein lieber Kanzleidirektor, wie hoch Sie unsere geliebte Furstin schätzen. Glauben Sie mir, die erlauchte Frau wird es Ihnen innig danken, wenn Sie die Last von ihrer Seele nehmen und es ermöglichen würden, den unglücklichen vom Henkertode zu retten!“

Herr Dominikus schüttelte bedenklich das gewichtige Haupt. Als Mann des Gesetzes fand er es unerhört, daß der Verbrecher der wohlverdienten Strafe entgehen sollte. Dagegen wieder mochte der alte Junggeselle mit Freuden jeden Wunsch seiner liebreizenden Gebieterin erfüllen. In tiefem Nachsinnen sah der Kanzleidirektor vor sich hin und spielte mechanisch mit einer riesigen Papierschere, die auf seinem Schreibtisch gelegen.

Mit einem Male sprang er vom Stuhl auf und betrachtete mit freudigem Ausruf die Schere, als ob ihm aus dem blanken Stahl ein Gedanke aufleuchte.

„Heureka – ich hab’s gefunden, meine verehrte Gnädige!“ begann Fernhaber, indem er wie im fröhlichen Spiel die Schere auf- und zuklappte.

Benigna beobachtete betroffen das seltsame Gebahren des sonst so gemessenen Kanzleidirektors.

„Was haben Sie denn? Man sollte meinen, Sie gedächten die Schere als Rettungsinstrument zu brauchen.“

„Ist auch der Fall, gnädiges Fräulein, das Scherenrecht wird den Delinquenten salviren; wo hatte ich nur meinen Kopf, daß ich nicht gleich darauf verfiel!“

Darauf begann Herr Dominikus, sichtlich erfreut, mit seiner Rechtsgelahrtheit prunken zu können, dem überrascht aufhorchenden Fräulein des Langen und Breiten aus einander zu setzen, was es mit diesem sonderbaren Gnadenrecht für eine Bewandtniß habe.




Der verhängnißvolle Morgen war angebrochen, da Franz Werner den Tod durch Henkershand erleiden sollte. Um die bestimmte Stunde begann das Armesünderglöcklein zu läuten, und der Zug mit dem Verurtheilten setzte sich nach der Richtstätte in Bewegung. An der Spitze schritten zwei Trabanten; dann folgten eine Abtheilung des städtischen Kontingents, die Vertreter der hohen Justiz und endlich der Verurtheilte mit einem Strick um den Hals, dessen Ende der Henker hielt. Zu beiden Seiten sowie am Schluß ward der Zug wieder von Stadtsoldaten geleitet, welche alle Mühe hatten, die andrängenden Neugierigen fern zu halten.

Es war ein wundervoller Sommertag; erfrischender Morgenwind kräuselte die blaue Fläche des Sees, leuchtend ragten die Schneehäupter der Berge über die grünen Ufer und fröhlich sangen die Vöglein in den Zweigen. Wohl Wenige aus der stumpfen Menge, welche gaffend und schwatzend an dem grausigen Schauspiel theilnahm, mochten daran denken, welch erschütternder Gegensatz in der friedlichen Pracht der Natur zu dem Schreckensende eines blühenden Lebens lag. Und doch – wie ergreifend war die Erscheinung des bemitleidenswerthen Helden des Schaustückes! Todtenbleich und mit gesenktem Haupte, wenn auch in fester Haltung, schritt der Aermste einher; der Ausdruck seines Gesichtes war ein tiefernster. In seiner Seele hatte in den letzten Tagen eine völlige Umkehr stattgefunden. Alle Phantastereien und Luftschlösser waren zerstoben vor dem furchtbaren Sturm seines Geschickes. Als Werner die tröstliche Botschaft Benigna’s empfangen, da hatte er sich heilig gelobt, seinem neugeschenkten Dasein fortan einen würdigeren Inhalt zu verleihen. Wohin haltlose Leidenschaft führen konnte, hatte er in entsetzlicher Weise an sich erlebt. Aber war es jetzt nicht zu spät zur Umkehr? Seit den räthselhaften Zeilen, welche Benigna im Einverständniß mit der Aebtissin ihm in den Kerker zugestellt, hatte sich nicht der geringste Hoffnungsschimmer mehr aufgethan. Nur wenige hundert Schritte trennten ihn noch von der schauerlichen Stätte des Gerichts – und noch immer kein Anzeichen, daß das Schreckliche von ihm abgewendet werden würde. Dennoch klammerte sich Franz Werner mit aller Kraft jugendlicher Lebenslust an das erhaltene Versprechen; er vermochte es nimmer zu fassen, daß die edle Prinzessin ihn so jammervoll zu Grunde gehen lassen konnte. Hatte er denn noch nicht genug gebüßt mit jedem Schritte auf dem Dornenpfad der Schmach? Als gemeiner Bösewicht der tausendköpfigen Menge zur Schau gestellt zu werden: das war eine Pein, die den Jüngling so ubermächtig ergriff, daß ihm fast die Sinne vergingen.

Der Malefikantenzug hatte sich nunmehr dem adeligen Stift genähert, an dem er auf dem Wege zum Hochgerichte vorüber mußte.

Da öffnete sich mit einem Male das Portal der Stiftskirche und heraus trat ein Zug ganz anderer Art, gar feierlich anzusehen. An der Spitze schritt Aebtissin Mathilde in schwarzer Sammtkleidung, mit den Insignien ihrer Wurde geschmückt. Ein schwarzer Florschleier umrahmte ihr Antlitz, dessen sonst so rosige Färbung einer tiefen Blässe gewichen war. Zu ihrer Rechten befand sich der Stiftsvikar, zur Linken der Kanzleidirektor in voller Amtstracht. Hinter der Aebtissin ging ein Stiftsdiener, welcher auf silberner Schale eine große scharfgeschliffene Schere trug, dann folgten, paarweise geordnet, die zwölf Stiftsfräulein, in dunkler Gewandung gemessen einherschreitend gleich dem Chor in der Tragödie.

Auf einen Wink Frau Mathildens hielt der Zug mit dem Verurtheilten still; Herr Dominikus Fernhaber schritt auf den städtischen Syndikus zu und that ihm im Namen seiner erlauchten Gebieterin kund, daß dieselbe von dem ihr zustehenden Scherenrechte dem Delinquenten gegenüber Gebrauch machen wolle.

Ungemessenes Staunen über diesen verblüffenden Zwischenfall bemächtigte sich aller Anwesenden.

„Das Scherenrecht?“

„Was mag das sein?“

„Was soll’s damit?“ so lief es von den nächststehenden Ohrenzeugen ausgehend blitzschnell durch die Menge. Die Wenigsten hatten von diesem Akt auch nur je erzählen gehört, war er doch seit fast hundert Jahren nicht mehr ausgeübt worden. Den Gerichtspersonen freilich war das Bestehen dieses Rechtes wohl bekannt.

Wer vermöchte zu schildern, was in Franz Werners Seele vorging, als die geliebte Prinzessin so überraschend gleich einem heilspendenden Engel des Lichts dem fast Verzweifelnden erschien!

Wie im Traume nur hörte er, was nun folgte und ihn doch so nahe betraf. Der Kanzleidirektor wandte sich abermals an den obersten Vertreter der städtischen Justiz mit dem Ersuchen, die von Kaiser Friedrich dem Dritten dem adeligen Stifte verliehene Gnadenurkunde vor versammeltem Volk verlesen zu dürfen. Vergebens jedoch geboten die Amtspersonen Stille, es war unmöglich, sich der aufgeregten Menge verständlich zu machen. Da verfiel der Lieutenant des städtischen Kontingents auf den Gedanken, die Trommeln einen langen Wirbel schlagen zu lassen. Das so überraschend gegebene Signal führte in der That sofort erwartungsvolle Stille herbei.

Herr Dominikus Fernhaber, welcher sich nicht wenig gehoben fühlte, in dem so seltenen Rechtsvorgang eine Hauptrolle zu spielen, entfaltete ein Pergament und begann mit weithin tönender Stimme den Gnadenbrief zu verlesen, dessen kurzer Sinn also lautete:

„Da der reichsstädtische Galgen im Einvernehmen mit dem gefürsteten Stifte auf einem Grundstück desselben errichtet wurde und desgleichen die MalefikantenzÜge dicht am Kloster vorbei mußten, so wurde vom Kaiser zum Entgelt dem Stifte das Losschneidungsrecht verliehen. Dasselbe bestand darin, daß die Aebtissin einen von der Stadt zum Galgen verurtheilten Verbrecher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_315.jpg&oldid=- (Version vom 8.5.2023)